Underachievement-Blog

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Realschulabschluss mit Latinum: Ein typisch untypischer Underachiever

Realschulabschluss mit Latinum: Ein typisch untypischer Underachiever

Oft reden wir über Underachiever:innen: Welche Schwierigkeiten sie haben, was sie brauchen, was wir und das Bildungssystem für sie tun könnten. Für diesen Beitrag haben wir mit einem Underachiever (18 Jahre) und seiner Mutter gesprochen. Dabei wird deutlich, dass Underachievement Spuren hinterlässt – bei der Person selbst und auch bei der Familie.

Juli 2023

Von: Wiebke Evers und Sabine Breyel


„Irgendwie passe ich nicht rein“

Daniel (Name wurde von der Redaktion geändert), 18 Jahre alt, sieht sich selbst nicht als typischen Hochbegabten. Dazu widerspricht er zu vielen gesellschaftlichen Klischees: Er spielt gerne Fußball, hört Rap-Musik, ist schlecht in Mathe und Physik und hat kein Abitur.

An anderen Dingen zeigte sich wiederum deutlich, dass er zur Gruppe der Hochbegabten gehört. In der Kita hat er als Eineinhalbjähriger lieber mit den Vorschüler:innen gespielt und sich mit ihnen unterhalten. Mit dreieinhalb Jahren las er sein erstes Wort „Slowenien“ von einer Weltkarte, ohne dass ihm jemand das Lesen beigebracht oder das Land schon einmal benannt hatte. „Spätestens da war uns dann klar, dass Daniel seinem Alter deutlich voraus ist“, erzählt seine Mutter. Daniel besuchte in der Grundschule keine Klassenstufe vollständig, sondern sprang nach ein paar Monaten jeweils in die nächsthöhere. Als Folge landete er mit sieben Jahren auf dem Gymnasium.

Das „Nichtleisten“ als kleinstes Problem

„Der Begriff Underachiever kam eigentlich erst vor Kurzem ins Spiel, so vor ca. drei oder vier Jahren“, berichtet Daniel. „Das war an der zweiten weiterführenden Schule, als ich wieder die 10. Klasse nicht geschafft habe und klar war, dass es mit dem Abi nichts wird. Zu Hause wurde der Begriff aber eigentlich nicht benutzt.“ Seine Mutter ergänzt: „Es war für uns kein Thema, ob Daniel Achiever oder Underachiever ist. Wir haben so ums Überleben in der Schule gekämpft, dass das überhaupt nicht relevant war.“

Wie viele Underachiever:innen hatte Daniel in der Grundschule noch ganz gute Noten. Die für ihn geringen Anforderungen konnte er leicht erfüllen. Ums Üben und Hausaufgabenmachen drückte er sich geschickt herum. „Da hatte ich wirklich Glück, dass ich die Leistung in der Grundschule so abrufen konnte. Sonst hätte man vielleicht doch wieder an der Hochbegabung gezweifelt und hätte mich wegen ADHS oder so etwas behandelt.“

Im Bildungslabyrinth: Zwischen Sprungschanzen und Falltüren

Der Bildungsweg von Daniel war von einigen Herausforderungen geprägt. Er erinnert sich an viele Situationen aus Kita und Grundschule, die ihm das Gefühl vermittelt haben, dass er hier nicht richtig reinpasst. Dabei war der Druck auf ihn und seine Familie, dass er sich stärker anpassen soll, groß.

„In der Kita war es hart. Ich habe mir oft andere Beschäftigungen gesucht, was natürlich sehr gegen den Sinn der Erzieherinnen ging. Ich bin dann ständig aus dem Stuhlkreis geflogen“, erzählt Daniel. Als Konsequenz wurde er dann zur Leitung ins Büro gesetzt. Das war für ihn aber eher eine Belohnung, denn da gab es viele interessante Dinge anzuschauen und er konnte sich mit der Kita-Leiterin unterhalten. „Dabei habe ich gelernt: Wenn ich störe, verbessert sich meine Situation.“

Daniel wechselte mit fünf Jahren vorzeitig auf eine bilinguale Vorschule, in der er sich sehr wohlfühlte. Eine der Lehrkräfte stellte sich gut auf ihn ein, er lernte in Windeseile Englisch und bekam viele Anregungen. „Im Nachhinein betrachtet, war das mein einziges schönes Schuljahr“, sagt Daniel mit einem wehmütigen Lächeln. Am ersten Tag in der Grundschule folgte direkt der Dämpfer: Es gab kaum noch Englisch im Stundenplan. Auch die anderen Fächer hatte er sich ganz anders vorgestellt. Schnell hatte er den Eindruck, er könne hier wenig Neues lernen. Die Mutter berichtet: „Die ganze Schulzeit bedeutete von allen Seiten Stress – mit den Lehrkräften, den Mitschüler:innen und auch mit deren Eltern. Als Konsequenz gab es auch zu Hause viel Stress, was bei Daniel psychosomatische Beschwerden auslöste. In der Grundschule fehlte er dadurch viel.“

Mit sieben Jahren kam Daniel aufs Gymnasium. Die Schwierigkeiten kamen mit. Als Daniel die 7. Klasse nicht schaffte, wechselte er auf ein anderes Gymnasium. Da lief es besser – vor allem zwischenmenschlich. Doch die Lücken blieben groß und die Motivation klein. Die Versetzung in Klasse 10 gelang nicht. Daniel wechselte auf eine Gesamtschule, den Hauptschulabschluss und das Latinum in der Tasche. Den Realschulabschluss holte er später über die Fernschule nach.

Großer Bedarf, wenig Begleitung

Schon in der Kita war der O-Ton der pädagogischen Fachkräfte, dass Ausnahmen zu aufwendig seien. „Die haben gesagt, wenn wir Daniel vorzeitig ins Vorschulprogramm der Kita aufnehmen, dann will das am Ende jeder“, erzählt Daniels Mutter. Auch in der Schule blockten die Lehrkräfte die Bitten der Eltern ab, ihrem Sohn Aufgaben zu geben, die ihn mehr herausfordern. „ ‚Das können wir nicht leisten‘, hieß es dann, und fertig.“

Dabei war Daniels Eltern mit drei hochbegabten Kindern zu Hause klar: Die Kinder müssen schon in der Grundschule lernen, wie man lernt. „Aber wir haben uns damals gefragt, wie das funktionieren soll, wenn die Kinder den Stoff schon so gut können, dass die eben nicht üben müssen“, berichtet Daniels Mutter.

Auch die Termine mit dem Schulpsychologischen Dienst empfand Daniel damals als wenig hilfreich. „Das war eigentlich immer nur Bekämpfung der Symptome“, sagt er. „Da wurden nicht die Ursachen erforscht, es ging auch nicht um das Thema Hochbegabung.“ Weil es zu Hause – nicht zuletzt auch durch den Stress in der Schule – Schwierigkeiten gab, hatte sich die Familie auch an eine Erziehungsberatungsstelle gewandt. Leider gelang es jedoch auch mit dieser Unterstützung nicht, die Schule ins Boot zu holen, um genauer die Bedürfnisse und die Gründe für die schulischen Schwierigkeiten zu klären.

„In der Begleitung hätte es uns sehr geholfen, wenn sich die Beratenden speziell mit Hochbegabung ausgekannt hätten. So wurden meist nur die ganz akuten Brände gelöscht“, erzählt Daniels Mutter. „Es hat uns lange Zeit an der richtigen Unterstützung gefehlt, bis wir 2016 der richtigen Person begegnet sind, die sich wirklich im Thema auskannte. Sie hat uns gerettet.“

Zuversicht, Prioritäten und ganz viel Geduld

Die richtigen Impulse von außen waren für die Familien essenziell, doch deren Umsetzung nicht immer einfach. „Der Weg hierher war lang! Wir konnten zu Beginn schwer akzeptieren, dass der Lebensweg nicht immer linear und Leistung nicht das Wichtigste ist. Mit der Zeit wurde uns klar, dass die Gesundheit und das Wohlbefinden unserer Kinder an erster Stelle stehen“, erzählt Daniels Mutter. „Uns als Eltern war es wichtiger, dass unsere Kinder psychisch gesund aus dem Schulsystem rauskommen als mit Abitur.“

Geduld und Zuversicht haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die Familie gemeinsam einen guten Weg gefunden hat. „Ich bin eigentlich ein wirklich ungeduldiger Mensch“, gibt Daniel zu. „Aber im Rückblick mussten meine Familie und ich schon sehr geduldig sein, zum Beispiel allein um den passenden Ansprechpartner zu finden: Du sprichst mit 15 Personen und mit Glück passt es vielleicht bei einer.“ Seine Mutter fügt hinzu, dass die solide Vertrauensbasis in der Familie geholfen habe, auch in schweren Zeiten gut in Kontakt zu den Kindern zu bleiben. „Wir haben es uns auch selbst verdient, da zu sein, wo wir jetzt sind“, findet Daniel.

„Für mich war auch der Ausgleich zur Schule total wichtig, mal rauszukommen, Fußball zu spielen und diese Dinge“, erzählt Daniel. Auch andere Hochbegabte kennenzulernen, war für die Familie hilfreich. Über Mensa vernetzten sie sich schnell und Daniel besuchte verschiedene Angebote im Kinder- und Jugendbereich. „Ich habe da immer gut Anschluss gefunden. Obwohl ich andere Interessen hatte als die meisten dort.“

Das Leben nach der Schulpflicht

Uns gegenüber sitzt ein sympathischer junger Mann, der voller Zuversicht in die Zukunft schaut. Die Ausbildung, die Daniel nach dem Realschulabschluss begonnen hatte, war zwar nicht das Richtige für ihn, aber davon lässt er sich nicht entmutigen. Im Augenblick jobbt er, um Geld für eine größere Reise zu verdienen. „Wir alle in unserer Familie haben inzwischen das Vertrauen, dass man seinen eigenen Weg finden wird. Und auch wenn ich im Moment noch ein bisschen auf der Suche bin, bin ich doch auf dem richtigen Weg, um einfach ein glückliches Leben zu führen“, erzählt Daniel mit einem Lächeln. Am Ende entscheidet eben nicht der Abgleich zwischen IQ und Noten, ob jemand glücklich ist.

Über Daniels Bildungsweg zu lesen, löst die Frage aus: Was wäre gewesen, wenn er in Kita und Schule auf Personen gestoßen wäre, die ihn mit seinem Potenzial besser gefördert und sein Leiden ernster genommen hätten? Es zeigt deutlich: Das Bildungssystem braucht Fachkräfte, die gut im Thema Hochbegabung geschult sind und sich auch mit Underachievement auskennen. Eine ressourcenorientierte und offene Haltung gegenüber besonders begabten Schüler:innen kann dazu beitragen, dass sie mit ihren Fähigkeiten und Potenzialen nicht nur Akzeptanz finden, sondern Bestärkung erfahren und sich zugehörig fühlen – ganz egal, ob sie eher „typisch“ oder „untypisch“ hochbegabt sind.

Zum Weiterdenken

  • Haben Sie schon mal einen ähnlichen Fall wie diesen hier von Daniel erlebt oder begleitet? Was war bei diesem Fall anders, was war gleich?
  • Was hätten Sie als Lehrkraft oder als Berater:in von Daniel unternommen, um seine Freude an der Schule und am Lernen zu erhalten?
  • Welche Kompetenzen sehen Sie für Ihre Profession als zentral an, um Schüler:innen wie Daniel auf ihrem Bildungsweg besser zu unterstützen?