Underachievement-Blog

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Prävention von Underachievement: Der Faktor KI

Prävention von Underachievement: Der Faktor KI

Wenn es gelingt, Unterricht begabungsförderlich zu gestalten, sinkt auch das Risiko für Underachievement. Was einfach klingt, erweist sich indes oft als pädagogischer Kraftakt. Naht jetzt Hilfe durch die neuen, KI-basierten Tools wie ChatGPT? Dieser Beitrag untersucht, wie der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) dabei helfen kann, den besonderen Lernbedürfnissen hochbegabter Kinder und Jugendlicher Rechnung zu tragen.

Oktober 2023

Von: Barbara Saring


Naht jetzt Hilfe durch KI?

Underachievement ist eine der wohl belastendsten Situationen, mit denen hochbegabte Kinder, ihre Eltern und Lehrkräfte konfrontiert sein können. Einer der wichtigsten Gelingensfaktoren dafür, dass sich hohe Begabung auch in guter schulischer Leistung zeigt, ist ein begabungsförderlicher Unterricht.

Warum erscheint es lohnend, sich in diesem Kontext mit KI zu befassen? Ideen zum Einsatz in Unterricht und Schule gibt es – fast ein Jahr nach Veröffentlichung der generativen Sprach-KI ChatGPT – in großer Zahl. Aber hat KI auch das Potenzial, Unterricht so mitzugestalten, dass eine Orientierung an besonderen Bedürfnissen Hochbegabter gelingt und dadurch das Risiko für Underachievement reduziert werden kann?

KI als kognitives Werkzeug in der Schule

Wo sollen wir den Einsatz von KI unterbinden, wo KI dulden, wo sogar fördern? Mit diesen Fragen sind heute wohl alle Pädagog:innen konfrontiert. Und auch wenn zurecht ein breiter gesellschaftlicher Diskurs zu den Gefahren, Täuschungs- und Betrugsversuchen, bis hin zu Sorgen bezüglich Superintelligenzen eingesetzt hat: Aus der Sicht von Pädagog:innen kann KI zunächst Entlastung bedeuten sowie Chancen eröffnen für mehr Individualisierung, Differenzierung und im besten Fall für mehr Bildungsgerechtigkeit. Denn KI kann bei der Unterrichtsvorbereitung, bei der Anpassung von Texten an unterschiedliche Schwierigkeitsniveaus oder bei der Entwicklung von Förder- und Forder-Ideen unterstützen. Mit Bild-KIs wie Dall-E lassen sich zudem Bilder generieren und als stumme Impulse einsetzen. Der Schlüssel zum Erfolg sind dabei passgenaue „Prompts“, also zielführende Anweisungen an die KI. Je präziser Sie und Ihre Schüler:innen diese Prompts formulieren, desto hilfreicher können generative KIs wie ChatGPT in einem „hybriden Team“ aus Mensch und Maschine werden.

Hochbegabte lernen anders

Laut dem Psychologen und Begabungsforscher Weinert 1 unterscheidet sich das Lernverhalten besonders Begabter in mehrfacher Hinsicht von dem anderer Lernender:

  • Begabte verarbeiten neue Informationen mit größerer Geschwindigkeit,
  • sie zeichnen sich durch eine besondere Tiefe des Verständnisses für neue Begriffe oder Prinzipien aus,
  • sie haben ausgeprägte metakognitive Fähigkeiten,
  • ihr Wissen ist in der Regel intelligent vernetzt und
  • sie verfügen meist über hohe kreative Fähigkeiten der Problemlösung.

Diese Unterschiede haben für die Nutzung von KI-Tools grundlegende Implikationen: Ihre Lernbesonderheiten befähigen hochbegabte Kinder in besonderer Weise dazu, KI reflektiert und klug für ihre Zwecke zu nutzen und das Potenzial dieser kognitiven Werkzeuge voll auszuschöpfen. Zugleich befriedigt die Nutzung der Tools genau jene Bedürfnisse nach Geschwindigkeit, Komplexität, Selbststeuerung und Kreativität. Und drittens werden im Nutzungsprozess selbst auch genau diese analytischen, kreativen und metakognitiven Stärken weiter ausgebaut und gefördert.

Die folgende Grafik veranschaulicht diese Zusammenhänge:

Bild: Barbara Saring

Die Lernbesonderheiten können zugleich aber auch Risikofaktoren für hochbegabte Schüler:innen werden. Während viele Hochbegabte beispielsweise metakognitiv stark sind, können (noch) fehlende metakognitive Kompetenzen ein Risiko für die Entwicklung von Underachievement sein. Hier profitieren Schüler:innen von KI-basierter Unterstützung.

Wie könnten Sie als Pädagog:innen die genannten fünf Lernbesonderheiten Ihrer Schüler:innen stärker in den Blick nehmen? Und wie könnte Sie der Einsatz von KI in der Folge bei der begabungsförderlichen Unterrichtsgestaltung unterstützen?

(1) Geschwindigkeit aufnehmen

Hochbegabte lernen schneller! Wir beobachten, dass sie daher ein großes Bedürfnis nach mehr und vielfältigerem Input verspüren.

  • KI-Tools wie etwa perplexity.ai können zusätzliche und ergänzende Wissens-Ressourcen (mit Quellen) schnell und unkompliziert bereitstellen; eine Registrierung auf dem Portal ist dabei nicht erforderlich.
  • Lassen Sie ChatGPT individualisierte Lernerfahrungen für die Kinder entwerfen, mit angepassten Schwierigkeitsstufen bei Texten, Quizzes und Abfragen.
  • Im Rahmen von Akzeleration oder Enrichment-Projekten: ChatGPT liefert Ihren Schüler:innen in wenigen Sekunden hilfreiche Tipps zur Vorbereitung auf mathematische Wettbewerbe, Sprachtests oder andere anspruchsvolle Prüfungen und Projekte.
  • Nutzen Sie ChatGPT, um Strategien für Peer Learning zu erhalten, bei denen begabte Schüler:innen ihr Wissen mit anderen teilen können.

(2) Die Sehnsucht nach tiefem Verständnis

KI kann Schüler:innen dabei unterstützen, ihr Wissen interessengeleitet zu vertiefen.

  • Lassen Sie die KI ergänzende Literatur vorschlagen und auch wissenschaftliche Texte recherchieren, z. B. mit dem Tool elicit.org; hier ist keine Registrierung nötig.
  • Ermöglichen Sie den Kindern im Geschichtsunterricht mithilfe von ChatGPT beispielsweise ein Interview mit historischen Persönlichkeiten oder Zeitzeugen zu führen.
  • Oder bitten Sie ChatGPT um kontroverse Fragen oder Aussagen, die in der Klasse diskutiert werden, um das kritische Denken, das Hinterfragen und die Argumentationsfähigkeiten Ihrer Schüler:innen zu fördern.

(3) Metakognitive Stärken nutzen

Hochbegabte beherrschen in aller Regel das Denken auf verschiedenen Ebenen sowie die Selbststeuerung ihrer Lernprozesse.

  • Lassen Sie die Kinder ChatGPT verwenden, um sich personalisierte Lernpläne zu generieren. Schüler:innen erleben dadurch eine stärkere Kontrolle über ihren Lernprozess und erhalten Gelegenheiten, wichtige Lern- und Arbeitsstrategien zu entwickeln.
  • MINT- und Informatik-affine Kinder können ChatGPT nutzen, um Fehler in Programmiercodes zu finden und erfahren durch die KI eine Unterstützung in Echtzeit.
  • Mit der kostenlosen Chrome-Erweiterung editGPT können sich Kinder z. B. auch bei der Überarbeitung selbst geschriebener Texte unterstützen lassen: Überarbeitungsvorschläge werden anschaulich sichtbar gemacht und können angenommen oder auch abgelehnt werden.

(4) Übergreifend denken

Hochbegabte haben in der Regel ein intelligent organisiertes und zwischen Domänen vernetztes Wissen, welches sie flexibel aktivieren können.

  • Fragen Sie ChatGPT nach Ideen für interdisziplinäre Projekte oder Aktivitäten, die Ihre Schüler:innen dazu anregen, verschiedene Fähigkeiten und Wissensbereiche zu kombinieren.
  • Nutzen Sie die KI, um forschungsbasiertes Lernen und szenariobasiertes Denken zu fördern: Lassen Sie die KI dazu reale Szenarioaufgaben entwerfen, bei denen die Kinder verschiedene Perspektiven einnehmen und Lösungsansätze entwickeln müssen.

(5) Anders denken

Viele Kinder mit hoher intellektueller Begabung können aufgrund ihrer kreativen Fähigkeiten originelle und wertvolle Wege bei Problemlösungen und bei der Anwendung von neu Gelerntem gehen.

  • Erweitern Sie die Denkräume, indem Sie etwa anhand KI-generierter Bilder ein Unterrichtsthema kritisch hinterfragen lassen.
  • Lassen Sie die Schüler:innen z. B. mittels chatpdf.com mit ihren Textdokumenten chatten. Sie können sogar eigene ChatBots mit einer Auswahl weiterführender, vertiefender Texte trainieren und kreativ befragen, z. B. mit chatbase.com, einem in der Grundversion kostenlosen Tool.
  • Ermuntern Sie die Kinder gezielt zu experimentieren: Lassen Sie sie KI-gestützt Kurzpräsentationen zu selbstgewählten Aspekten des Unterrichtsthemas erstellen, z. B. mit slidesgpt.com; lassen Sie sie die Folieninhalte dann mit ihrem eigenen Vorwissen abgleichen.

Es braucht „kalibriertes Vertrauen“

Bei der Nutzung von KI gilt es, einen Mittelweg zu finden zwischen blindem Vertrauen und völliger Ablehnung der neuen Technologie. Sie entscheiden, ob und welche KI-Tools im Unterricht oder zu Hause eingesetzt werden dürfen. Auch der kompetente Umgang mit sensiblen Daten gehört dazu. KI-Tools wie ChatGPT sind dabei keine Selbstläufer. Auch hochbegabte Kinder brauchen hier Ihre Anleitung und Ermutigung, um Zutrauen in ihre Fähigkeiten zu entwickeln und Mut zu fassen, ihre individuellen Lernwege mit der KI zu gehen. Wir mögen verleitet sein, gerade besonders begabte Kinder mit den neuen Tools allein zu lassen. Doch werden ihre Lernerfahrungen mit KI auch wertschätzend wahrgenommen und begleitet, birgt dies eine große Chance. Gerade bei Enrichment-Projekten sind der Rückbezug in den Unterricht und auch ein authentisches Interesse der Lehrkraft wichtig, um ins Gespräch zu kommen und zu bleiben.

KI kann eine Ergänzung zu Ihrem professionellen Lehransatz werden. Gelingt mit KI-Hilfe ein begabungsförderliches Lehren und Lernen, so ist zugleich ein großer Schritt in Richtung Prävention von Underachievement getan.

Zum Weiterdenken:

  • Fragen Sie und experimentieren Sie mit Ihren Schüler:innen: Welche KI-Tools und welche Prompts versprechen wertvolle, inspirierende Lernerfahrungen?
  • Wie wäre es damit, im Kollegium eine KI-Bibliothek zu etablieren, mit gelungenen Anwendungsbeispielen und KI-basierten Tools, mit denen Sie gute Erfahrungen in der Begabungsförderung machen konnten?

Zum Weiterlesen:

Ideen- und Tool-Ressourcen

  • Lesenswerter Blog mit KI-Anwendungsbeispielen und einem Prompt Guide von Lehrer Manuel Flick.
    https://www.manuelflick.de/blog
  • Saring, B.: ChatGPT und Hochbegabung. Wird jetzt alles gut? Beitrag im Labyrinth-Magazin, Ausgabe #152 im Mai 2023 der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind e. V. (DGhK).
    Link zum Text-Download
  • Plattform für digitale und KI-Weiterbildungsangebote und DSGVO-konforme KI-Tools.
    https://fobizz.com/
  • Hervorragende Übersicht zu generativen KI-Tools im Kontext akademischer Lese- und Schreibprozesse vom „Virtuellen Kompetenzzentrum – Schreiben lehren und lernen mit Künstlicher Intelligenz“, Prof. Dr. Doris Weßels, Fachhochschule Kiel, University of Applied Sciences.
    https://www.vkkiwa.de/ki-ressourcen/