Hochbegabte unterstützen

Schule

Schulischer Umgang mit Underachievement

Hochbegabt, aber keine guten Noten auf dem Zeugnis? Dann könnte es sich um das Phänomen Underachievement handeln. In unserem Film zeigen wir am Beispiel des Alexander-von-Humboldt-Gymnasiums in Greifswald, dass es Möglichkeiten gibt, wie Betroffene, Lehrkräfte und Eltern die damit verbundenen Herausforderungen gestalten können.

Von: Miriam Lotze


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Underachievement in der Schule – was nun?

Wenn hochbegabte Schüler:innen in der Schule nicht in der Lage sind, ihr Fähigkeitspotenzial abzurufen und ihre Begabung auch in Leistung umzusetzen, ist dies nicht selten mit großen Herausforderungen verbunden. Das Phänomen „Underachievement“ kann bei den Schüler:innen zu Schulunlust oder gar Schulabstinenz, Schwierigkeiten bei der Lern- und Leistungsmotivation, zu Prüfungsangst oder psychischen Problemen führen. Das Erkennen von Underachievement ist schwierig und das Zusammenspiel verschiedener Faktoren in Schule und Familie macht es nicht einfach, Lösungen zu entwickeln.

Unser Film zeigt Möglichkeiten des Umgangs mit Underachievement in der Schule auf. Die verschiedenen ineinandergreifenden und auf jede:n Schüler:in individuell abgestimmten Maßnahmen wurden am Alexander-von–Humboldt-Gymnasium im Rahmen des Projektes Karg Campus Schule Mecklenburg-Vorpommern entwickelt.

Wenn ein Verdacht auf Underachievement besteht, richtet die Schule den Blick zunächst auf verschiedene Faktoren, um danach ein individuelles und gezielt abgestimmtes Maßnahmenbündel zu schnüren:

  • die allgemeine Lern- und Leistungsmotivation der Schüler:innen,
  • das schulische Selbstkonzept, welches das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten widerspiegelt und
  • soziale Angst bzw. Prüfungsangst.
  • Bei Underachievern liegt oft ein negatives schulisches Selbstkonzept vor. Auch soziale Angst und Prüfungsangst sind bei ihnen häufig stärker ausgeprägt. Die Testergebnisse werden zunächst im Kollegium und dann mit den Schüler:innen und ihren Eltern besprochen.

    Uwe Röser, Koordinator des Hochbegabtenzweiges an der Schule, erzählt von dem Prozess, in dem sich das Kollegium dem Thema Underachievement genähert hat: „In unserem Hochbegabtenzweig haben wir hochbegabte Schüler:innen und natürlich gab es da die Erwartungshaltung, wow, zwei Prozent der Besten sind bei uns in der Schule und dann stellt man fest, dass das kein Selbstläufer ist und dass viele junge Menschen tatsächlich mit viel Potenzial das nicht aufs Parkett bringen können. Deshalb haben wir den Impuls der Karg-Stiftung dankend aufgenommen und haben uns einfach gefragt, wie wir über Begabungsförderung nachdenken wollen. Und wir haben dann darüber nachgedacht, wie wir denen helfen können, denen es nicht zufällt.“

    Das Lernen und der Bildungserfolg von Schüler:innen stehen durch diese Haltung im Mittelpunkt, um jedem Kind eine individuelle Förderung zu ermöglichen. Wenn hochbegabte Underachiever frühzeitig erkannt, wenn sie gefördert werden und ihnen geholfen wird, trägt das auch zu mehr Bildungsgerechtigkeit bei.

    Transkript

    Milan Gudat, Vater: Was ich halt richtig krass fand, sie kam in der ersten Klasse nach zwei Wochen Schule zu mir an und sagte: „Papa, ich kann lesen“.

    Florian Littek, Lehrer AvH-Gymnasium: Ein kluges Pferd springt nur so hoch, wie es springen muss.

    Wir hatten mal den krassen Fall einer Schülerin, die später als Hochbegabte diagnostiziert worden ist, die mit einem IQ von 149 bei uns die 10. Klasse wiederholen musste und trotzdem am Ende den Realschulabschluss nicht geschafft hat, sprich: Die hatte das Potenzial, Nobelpreisträgerin zu werden, und ist hier mit einem Hauptschulabschluss rausgegangen.

    Sprecher: Hochbegabt, aber doch keine Einser-Schülerin. Das Phänomen Underachievement ist bisher zu wenig erforscht und die Ursachen können sehr unterschiedlich sein. Allen gemeinsam ist eins: Diese Schüler:innen können ihr Potenzial nicht abrufen.

    Uwe Röser, Koordinator Schulzweig „Hochbegabung“, Studienleiter am AvH-Gymnasium: „Erwartungswidrige Minderleister“ würde man auf Deutsch sagen. Tatsächlich sind das also fähige Köpfe, die irgendwie nicht in der Lage sind, das zu aktivieren, was in ihrem Kopf drin ist.

    Dr. Miriam Lotze, Karg-Stiftung: Ursachen für Underachievement können im familiären oder im schulischen Kontext liegen. Also, dass die Rahmenbedingungen entweder in der Schule oder in der Familie nicht passen oder in der Vergangenheit familiär, schulisch Erfahrungen gemacht worden sind, die für die Schülerinnen und Schüler schwierig waren.

    Sprecher: Neolenie lebt nach der Trennung der Eltern beim Vater: Sie hat einen IQ von über 140. Aber ihre Lernmotivation war gering – sie hat eine Klasse wiederholt und ist häufig einfach nicht zur Schule gegangen.

    Andere Underachiever lassen sich schnell ablenken. Obwohl sie einen hohen IQ haben und sehr schnell denken können, gelingt es manchen nur schwer, ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren. Auch Alea ist hochbegabt.

    Saskia Laslo, Mutter von Alea: Alea hat sich tatsächlich in der Grundschule immer schon so ein bisschen schwergetan. Da ist das aber gar nicht so unbedingt als Hochbegabung oder so erkannt worden; haben wir auch tatsächlich als Eltern gar nicht so wahrgenommen. Für uns war sie einfach unsere Alea.

    Alea, Schülerin AvH-Gymnasium: Also, ich war in, ganz normal in der Grundschule, da bin ich eben nicht so gut mit den Lehrern zurechtgekommen, weil die mich eben einfach missverstanden haben, teilweise. Und dann hatte ich in der Realschule oder Regionalschule eben eine sehr nette Klassenlehrerin, und die hat dann auch so angeregt, dass ich einen IQ-Test mache.

    Sprecher: Diagnose Hochbegabung: Aber Alea schreibt keine guten Noten. Sie setzt sich zu sehr unter Druck, kann ihre Leistung in stressigen Situationen nicht abrufen.

    Die Lehrer am Alexander von Humboldt-Gymnasium tippen auf Underachievement – Tests bestätigen das.

    Die Ergebnisse werden mit den Eltern besprochen.

    Wenn ein Verdacht auf Underachievement besteht, kann auf drei Ursachen hin getestet werden.

    Markus Kurschus, Lehrer AvH-Gymnasium: Das ist einmal Lern- und Leistungsmotivation, dann haben wir einmal noch das sogenannte schulische Selbstkonzept, und einmal gucken wir so einen allgemeinen Angst-Fragebogen an. Und dieser Test misst zum Beispiel Prüfungsangst, unter anderem. Das glaube ich, das kennen wir alle.

    Genauso testet zum Beispiel dieser Angst-Test Begriffe oder Eigenschaften wie soziale Erwünschtheit: Bin ich beliebt bei anderen Schülerinnen und Schülern? Vor allen Dingen: Bin ich nicht beliebt? Das ist dann die entsprechende Angst induzierende Frage.

    Sprecher: Das schulische Selbstkonzept, also das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, ist bei Underachievern oft gering.

    Markus Kurschus: Wenn man sich selbst für schlecht hält, dann ist man auch dazu geneigt, schlechte Ergebnisse zu reproduzieren. Dann sagt man, ich bin blöd, und dann macht man nichts mehr. Wir wissen aber in dem Falle haben wir einen IQ 130 Plus.

    Sprecher: IQ über 130, aber unmotiviert, ängstlich, unkonzentriert oder anstrengend … Das sind Stereotype, mit denen Underachiever öfter konfrontiert werden.

    Schüler:innen nicht als Störfaktor zu sehen, sondern als Underachiever – dafür mussten die Lehrkräfte erst einmal sensibilisiert werden.

    Im Kollegium werden nach der Testauswertung die individuellen Maßnahmen besprochen.

    Uwe Röser: Zuallererst, glaube ich, muss man darüber aufklären, dass es das gibt. Also ich muss mir ein Team aufbauen, die Lust, Interesse haben daran, diesen jungen Menschen, die leiden, unter dieser Situation, denen irgendwie helfen zu wollen.

    Dr. Miriam Lotze: Und dem Thema hat sich die Karg-Stiftung angenommen, da ein bisschen mehr Licht ins Dunkel zu bringen, um Lehrkräften auch die Möglichkeit zu geben, Underachiever zu erkennen, sie dann auch entsprechend fördern zu können.

    Uwe Röser: Wichtig ist aber dabei, dass man, dass es immer auch den Blick auf das gelingende Fach gibt. Dass man sagt, okay, was kannst du gut und wo ist das? Wo ist sozusagen dein Erfolgskonzept dieses Faches, und kannst du das übertragen auf ein anderes Fach?

    Sprecher: Bei Alea ist es der Sport – hier ist sie leistungsstark und baut Selbstvertrauen auf für andere Fächer, in denen sie sich zu sehr unter Druck setzt.

    Alea: Auch jetzt in der hochbegabten Klasse als Sportlerin wird man eben sportlich gefördert oder generell mit den Interessen. Auch das finde ich sehr wichtig, auch eigentlich, dass die Sportler dort gefördert werden oder auch andere Leute generell, dass einfach so Fähigkeiten da gefördert werden.

    Sprecher: Neolenies Stärke ist das Fach Kunst. Die Selbstwirksamkeit, die sie hier erlebt, ist eine wichtige Grundlage für Lernen und Spaß am Unterricht.

    Neolenie, Schülerin AvH-Gymnasium: Wenn man so sieht, dass das, was man halt macht, immer schöner wird und halt immer mehr zu dem, was man möchte, ist das ein sehr tolles Gefühl. Weil du erschaffst halt etwas aus Nichts, und jedes Mal, wenn man so ein Bild fertig hat, kriegt man so richtig ein gutes Gefühl.

    Sprecher: Auch an der Organisation der Schulunterlagen wurde gearbeitet. Für jedes Fach einen Ordner – ganz einfach.

    Es läuft besser, durch das individuelle Lerncoaching: Neolenies Methodenkompetenzen und Selbstorganisationsfähigkeit wurden geschult.

    Neolenie: Ich hätte das halt wahrscheinlich einfach nie gemacht, weil ich so war: Ja okay, so funktioniert es halt auch. Ich tu halt einfach alles in meinem Notizblock. Es ist zwar lose, und ich weiß nie, wo irgendwas ist, aber ich hab‘s halt irgendwo. Aber so diese Hefter zu haben und halt jemanden zu haben, der halt wirklich das mit mir gemacht hat, das war sehr praktisch.

    Sprecher: Wichtig ist die Mitarbeit der Eltern. Denn auch Familien wirken an der Problemlösung mit. Am Alexander-von-Humboldt-Gymnasium treffen sich die Eltern mit ihren Kindern im Familiencafé und tauschen sich aus. Hier beginnt das Verstehen.

    Milan Gudat, Vater von Neolenie: Also Neolenie freut sich immer sehr drauf, weil das so eine Zeit auch ist, die wir zusammen nutzen. Und ja, seitdem wir hier sind, ist halt schon die Beziehung ein bisschen besser geworden, weil wir uns besser austauschen. Was zu Hause nicht so der Fall ist.

    Neolenie: Am Anfang, wenn wir uns treffen, erzählen wir immer so, wie es gelaufen ist, und da kriege ich halt auch immer gut mit, was er so denkt, wie es ist und was er so sieht. Weil manchmal ist das halt was ganz anderes, als was ich fühle, aber manchmal passt es auch halt komplett überein. Ich glaube, es war so. Mein Vater hat halt auch mitbekommen, dass ich endlich wieder öfters in die Schule gehe oder halt pünktlich bin und so alles, ähm genau, und dann hat er auch gesagt, das findet er sehr gut.

    Sprecher: Elternmitarbeit einfordern, Organisationsstrukturen schaffen, Stärken herausarbeiten, Ängste abbauen: Durch die verschiedenen Maßnahmen im Underachiever-Programm der Schule wird das Thema jetzt greifbarer – es liegt eben keine kognitive Minderleistung vor.

    Uwe Röser: Du kannst leisten, du bist dazu in der Lage. Warum kannst du es hier? Warum kannst du es nicht dort?

    Und ein Grund dafür ist, dass wir tatsächlich Potenziale liegen lassen, nämlich junge Menschen, die mit einem tradierten System Schule so nicht klarkommen. Denen müssen wir helfen, und das hat was mit Gerechtigkeit zu tun.

    Dr. Miriam Lotze: Da den Blick für zu öffnen, zu sensibilisieren, das ist eben auch ein Auftrag der Karg-Stiftung.

    Uwe Röser: Und mit dem Programm kann man tatsächlich jungen Menschen helfen, aber auch erfahrenen Kollegen helfen, zurückzufinden zu den ursprünglichen Wurzeln dieser Entscheidung, Lehrerin und Lehrer zu werden. Alles andere findet sich.

    Sprecher: Neolenie hat wieder mehr Spaß an der Schule, will ihren Abschluss schaffen, um dann etwas mit Kunst zu machen.

    Sie hat nun wieder Vertrauen in sich selbst und weiß, wie sie ihre Ziele erreichen kann.

    Mitwirkende/Danksagung

    Karg Campus Schule Mecklenburg-Vorpommern ist ein Kooperationsprojekt der Karg-Stiftung mit dem Ministerium für Bildung und Kindertagesförderung des Landes Mecklenburg-Vorpommern.

    Wir bedanken uns beim Alexander-von-Humboldt-Gymnasium, insbesondere bei Uwe Röser, den Schüler:innen und Eltern sowie den Lehrkräften und allen weiteren am Film Mitwirkenden. Bei Annette Pilawa bedanken wir uns für die sehr gute Zusammenarbeit.

    Regie: Annette Pilawa
    Kamera/Schnitt: Marcus Brodt
    Ton: Felix Schettler
    Sprecher: Max Dörken

    Redaktion: Dr. Miriam Lotze (Projektleitung Schule, Karg-Stiftung) & Anja Gjaldbaek (Projektleitung Fachmedien, Karg-Stiftung)
    Projektdurchführung: Dr. Nicole Miceli, Dr. Carolin Kiso & Dr. Miriam Lotze, Ressort Schule (Karg-Stiftung)

    Audio: Studio Funk
    Audiodesign/Einspielung: Reingard Lipp & Christoph Hiller