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Verborgenes Potenzial: Herausforderungen hochbegabter Kinder und Jugendlicher in einkommensarmen Familien

Verborgenes Potenzial: Herausforderungen hochbegabter Kinder und Jugendlicher in einkommensarmen Familien

Hochbegabte Kinder in einkommensarmen Familien stehen vor besonderen Herausforderungen. Oft können sie ihre Begabungen nicht entfalten, weil ihre Eltern sich kostenpflichtige Bildungsangebote nicht leisten können.

Februar 2024

Von: Nadine Seddig


Einkommensarmut in der Familie und Begabungsentfaltung

Einkommensarmut stellt eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft dar und betrifft auch viele Kinder und Jugendliche, insbesondere wenn sie in Mehrkindfamilien oder bei alleinerziehenden Elternteilen aufwachsen. Doch gerade in dieser Altersgruppe schlummern oft große Begabungen und Potenziale, die es zu fördern gilt. Wie können wir ihnen als Gesellschaft helfen, ihre Talente zu entdecken und zu entfalten? Die Bildungsinstitutionen Kita und Schule spielen dabei eine entscheidende Rolle, da junge Menschen hier viel Zeit verbringen.

In diesem Blogbeitrag werden wir uns damit auseinandersetzen, was dazu beitragen kann, dass hochbegabte Kinder aus einkommensarmen Familien ihr volles Potenzial ausschöpfen können. Dabei geht es nicht nur um die Förderung von Bildungschancen, sondern vor allem auch um den gerechten Zugang zu Bildungsangeboten, die eine Teilhabe ermöglichen. Denn immer noch kosten diese zusätzliches Geld, das von manchen Familien einfach nicht aufgebracht werden kann. Eine ganzheitliche Unterstützung durch staatliche Institutionen ist hierbei ebenso wichtig wie eine Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema Einkommensarmut und deren Auswirkungen auf begabte Kinder.

Leona und die Liebe zur Kunst

Schauen wir uns zunächst das Fallbeispiel von Leona an, um die Thematik besser zu verstehen. Leona ist fünf Jahre alt und wurde auf Anraten der Kita bereits als hochbegabt getestet. Sie besucht eine Kita im ländlichen Raum in Deutschland. Leona hat ein ausgeprägtes Interesse an Kunst und Geschichte – sie liebt es zu malen und möchte so viel wie möglich über Kunst in verschiedenen Zeitepochen erfahren. Die Kita plant einen Ausflug in ein Kunstmuseum der nächstgrößeren Stadt, der für alle Kinder eine spannende Möglichkeit darstellen soll, mehr über die Welt um sie herum zu lernen. Sie müssen mit der Bahn dorthin fahren – was für eine aufregende Unternehmung für die Kinder. Dafür wird von allen Eltern eine Kostenbeteiligung von 8 Euro erhoben. Leona kann allerdings an solchen Aktivitäten nicht teilnehmen. Ihre Eltern arbeiten zwar beide, verdienen aber nur sehr wenig Geld. Die Familie hat Schwierigkeiten, die grundlegenden Bedürfnisse zu decken und kann daher erst recht keine zusätzlichen Ausgaben für solche Bildungsangebote oder gar Hobbies tätigen. Trotzdem ist die Scham zu groß, die Kita um Unterstützung zu bitten. So denken sich die Eltern eine Ausrede aus, damit Leona nicht teilnehmen muss. Leona, die ihre Enttäuschung über das Fehlen solcher Erfahrungen noch nicht äußern kann, leidet still unter der Unmöglichkeit, ihre Leidenschaft zu vertiefen und an dem Gruppenerlebnis teilhaben zu können.

Die finanzielle Belastungssituation setzt sich auch in der Schule fort. Die Schule bietet eine Digitalwerkstatt an, die den Schüler:innen die Möglichkeit gibt, ihre technischen Fähigkeiten zu entwickeln. Leona, die ein besonderes Interesse an der digitalen Welt zeigt, kann jedoch nicht teilnehmen, da die Extra-Teilnahmegebühren für ihre Familie unbezahlbar sind. Sowohl Leona als auch ihre Eltern schämen sich, dies in der Schule zu offenbaren. Leona fühlt sich von einer Welt der Möglichkeiten ausgeschlossen, die für ihre Altersgenoss:innen selbstverständlich zu sein scheint.

Einkommensarmut und Begabungen – was heißt das konkret?

Das Fallbeispiel von Leona zeigt eindrücklich, warum Kinder aus einkommensarmen Familien nicht immer teilhaben können und wie sie darunter leiden. Diese Teilhabe ist jedoch die Grundvoraussetzung dafür, dass Kinder ihre Begabungen entfalten und Wissen vertiefen können. Grundsätzlich bezeichnet „Armut“ eine Situation, in der Menschen über unzureichende materielle Ressourcen verfügen. Armut bedeutet aber noch viel mehr. Sie ist ein komplexes Phänomen und hat auch Auswirkungen auf die kognitive und soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Ein Mangel an Bildungs- oder Freizeitangeboten sowie ein Mehr an psychosozialen Belastungen – wie bei Leona, die still unter mangelnder Teilhabe leidet – können sich negativ auf die Potenzialentfaltung auswirken. Es ist daher wichtig und auch die Pflicht von Bildungsinstitutionen, Politik und Gesellschaft, dass Maßnahmen ergriffen werden, um allen Kindern und Jugendlichen den Zugang zu Bildungschancen und Freizeitmöglichkeiten zu eröffnen. Durch gezielte Förderung ihrer Begabungen können diese Kinder ihre Talente entfalten und ihre Zukunft selbstbestimmter gestalten. Eine ganzheitliche Unterstützung durch staatliche Initiativen sowie eine Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema Armut sind hierbei unerlässlich. Nur so kann ein gerechter Bildungszugang für alle Kinder gewährleistet werden – unabhängig vom Einkommen der Eltern.

Bildungsangebote in Kitas und Schulen dürfen nichts kosten!

Das Fallbeispiel von Leona verdeutlicht, dass hochbegabte Kinder aus einkommensarmen Familien oft von früher Kindheit an von grundlegenden Bildungserfahrungen ausgeschlossen sein können. Es ist von entscheidender Bedeutung, die Barrieren für hochbegabte Kinder zu erkennen und aktiv nach Lösungen zu suchen. Denn oft fehlen Eltern, ganz besonders alleinerziehenden Elternteilen, die finanziellen Mittel, um an teuren Nachhilfestunden, innerschulischen Bildungsangeboten oder außerschulischen Aktivitäten teilzunehmen.

Schulen und Kindertageseinrichtungen können hier von Beginn an einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie gezielt auf die individuellen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen eingehen und ihnen Unterstützung zukommen lassen. So sollte darauf geachtet werden, dass zusätzliche Bildungsangebote für Familien keine zusätzlichen Kosten verursachen. Hier kann ein Förderverein die richtige Lösung sein oder auch die Förderung gemeinnütziger Organisationen für bestimmte Bildungsangebote. Ein sensibler Umgang mit und ein aufmerksamer Blick auf Familien ist dabei wichtig, um Scham und Stigmatisierung zu vermeiden.

Ganzheitliche Unterstützung ist notwendig

„Es bedarf eines ganzen Dorfes, um ein Kind großzuziehen.“ Oft wird dieses afrikanische Sprichwort zitiert und es bleibt aktuell. Denn es gibt viel zu tun, damit Kinder teilhaben können. Es bedarf einer ganzheitlichen Unterstützung durch staatliche Initiativen und Organisationen sowie der Sensibilisierung der Gesellschaft für das Thema „Armut“ und ihrer Auswirkungen auf begabte Kinder. Es darf nicht vergessen werden, dass Armut ein komplexes Phänomen ist, das nicht allein durch individuelle Maßnahmen gelöst werden kann. Zwar wäre Leona geholfen, wenn die Kita oder die Schule die Kosten der Bildungsangebote übernehmen würde. In einer weiterführenden Schule stünde sie vermutlich wieder vor dem Problem, dass sie Angebote nicht wahrnehmen kann. Hier liegen strukturelle Probleme vor. Daher ist eine umfassende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema Armut, Bildung und Begabungsentfaltung unerlässlich: um allen Kindern und Jugendlichen gleiche Chancen zu ermöglichen und ihnen die Möglichkeit für eine vollständige Entfaltung ihres Potenzials zu geben.

Eine persönliche Frage zum Schluss:
Was ist für mich fair/Fairness?

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Fair ist, wenn alle gerecht behandelt werden. Ressourcen, Chancen und Belohnungen sollten auf eine gerechte Weise verteilt werden. Fairness hat daher viel damit zu tun, wie die Menschen miteinander umgehen und warum sie wie handeln. Fair ist auch, wenn Menschen in angemessener Weise behandelt werden.

Dr. Nadine Seddig
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Was sagen Kinder dazu?

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Ich finde es gemein, wenn Kinder einfach nicht mitgehen können, nur weil die Eltern kein Geld dafür übrig haben. Die tun mir leid und denen ist das bestimmt auch peinlich, in der Schule zu fragen, ob die das bezahlen können.

Lucia, 9 Jahre alt, 3. Klasse
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