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Der Einfluss von Adultismus auf die Begabungsentfaltung

Der Einfluss von Adultismus auf die Begabungsentfaltung

„Dafür bist du noch zu klein!“ oder „Um über den Tod nachzudenken, bist du noch zu jung“ sind Sätze, die Erwachsene zu Kindern sagen. Oft denken Erwachsene aufgrund ihres Alters, dass sie wissen, was für Kinder am besten ist. Aber nur weil eine Person erwachsen ist, heißt es nicht automatisch, dass sie kompetenter und klüger ist. Wann aber sprechen wir genau von Adultismus? Und wann verhindert adultistisches Verhalten, dass Kinder ihre Begabungen entfalten können? Mit diesen und anderen Fragen befasst sich dieser Blogbeitrag.

März 2024

Von: Gesa Hartenbach


Was ist Adultimus?

Unter dem Begriff Adultismus wird das ungleiche Machtverhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen verstanden. Aufgrund des geringeren Alters eines Kindes werden ihm bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, wie beispielsweise trotzig, niedlich, unreif oder nicht vertrauenswürdig zu sein. Viele Erwachsene gehen aufgrund ihres Alters davon aus, mehr zu wissen als Kinder 1.

Adultismus kann ein Hintergrund für Diskriminierung sein. Oft ist es die erste Diskriminierungsform, mit der höchstwahrscheinlich jeder Mensch in seinem Leben Erfahrung machen wird – ungeachtet der sozialen Herkunft, des Aussehens oder Geschlechts 1. Außerdem ist es die einzige Diskriminierungsform, die meist alle Erwachsene bereits erlebt haben, gleichzeitig aber auch oft selbst gegenüber Kindern ausüben.

Ein Fallbeispiel

Wir schauen auf ein Fallbeispiel, um zu veranschaulichen, was Adultismus genau bedeutet und in welchen Kontexten das Phänomen auftritt.

Noa ist vier Jahre alt und besucht seit einem Jahr den städtischen Kindergarten. Sie zeigt besonders großes Interesse an Büchern und Geschichten. Ihre Lieblingsbeschäftigungen in der Kita sind Vorlesen, Bücher anschauen und eigene Geschichten erzählen. Noa möchte unbedingt alle Bücher aus der Kita selbst lesen und beginnt daher damit, sich einzelne Wörter selbst beizubringen. Sie fragt ihre pädagogische Fachkraft Frau Schmitt, ob sie sie beim Lesenlernen unterstützen kann.

Was ist adultistisches Verhalten?

Adultistisches Verhalten kann in den unterschiedlichsten Situationen sichtbar werden. Oftmals geschieht es unbewusst, dass sich Erwachsene gegenüber Kindern adultistisch verhalten. Erwachsene meinen aufgrund ihres Alters zu wissen, was für Kinder das Beste sei, und bestimmen mit diesem Hintergedanken über sie 4. Das wäre beispielsweise der Fall, wenn Frau Schmitt Noa mit dem Lesenlernen auf die Schule vertröstet, weil sie denkt, das Beste für das Kind sei es, in der Kita noch zu spielen.

Auch das Unterbrechen von Kindern, wenn sie in ein Spiel oder Experiment vertieft sind, zum Beispiel weil es Essen gibt, ist adultistisches Verhalten. Dies wird oftmals nicht vorsätzlich begangen, sondern lässt sich unter anderem durch institutionelle Strukturen erklären. Auch Eltern verhalten sich gegenüber ihren Kindern adultistisch, wenn sie beispielsweise festlegen, welche Kleidung ihr Kind heute trägt 1. In extremen Fällen kann Adultismus sogar in Form von körperlicher Gewalt, Bestrafung und Beschimpfung auftreten 1.

In Bildungseinrichtungen sowie in der Familie passiert es häufig, dass unter Zeitdruck gehandelt und die Meinung der Kinder unbewusst übergangen wird. Es gibt Situationen, in denen es sinnvoll ist, wenn Erwachsene Entscheidungen für Kinder treffen, um sie beispielweise vor real existierenden Gefahren zu schützen. Allerdings müssen und können Kinder durch das aktive Besprechen von Entscheidungen gut in einen ernst gemeinten Meinungsaustausch miteinbezogen werden 4.

Welches erwachsene Verhalten führt dazu, dass Kinder ihre Begabungen nicht entfalten können?

Widerstand oder sogar Ablehnung von Erwachsenen gegenüber Kindern kann dazu führen, dass Kinder ihre Begabungen nicht entfalten können. Es gibt Kinder, die in der Schule eigene kreative und eventuell ungewöhnliche Arbeitsweisen nutzen, um beispielsweise eine zunächst simpel erscheinende Matheaufgabe „kompliziert“ zu lösen. Bei Lehrkräften oder Eltern kann das zu Verwirrung führen. Sie lehnen die unbekannte Arbeitsweise ab und wollen dem Kind den Rechenweg durch ihre Methoden erleichtern, ohne zu versuchen, den Lösungsansatz des Kindes nachzuvollziehen. Doch ein solches Verhalten kann negative Auswirkungen auf die Leistungsmotivation und das kindliche Selbstbild haben 1.

Oft bremsen Erwachsene besonders interessierte Kinder aus und vertrösten sie auf einen späteren Zeitpunkt. Das kann auch bei Noa passieren, wenn Frau Schmitt sie auf die Schule verweist und sagt: „Das lernen wir hier noch nicht, das lernt ihr erst in der Schule.“ Eine mögliche Folge kann sein, dass sich ihre Lernfreude verringert und es zu einer dauerhaften Unterforderung kommt.

Wenn Erwachsene mit einer adultistischen und vorurteilsbehafteten Perspektive auf Kinder blicken, kann ihre Begabungsentfaltung gefährdet werden 1. Für Kinder mit Migrationshintergrund kann das bedeuten, dass ihnen Begabungen weniger zugetraut werden, beispielsweise aufgrund fehlender Deutschkenntnisse. Auch Kinder aus sozial schwachen Familien können betroffen sein. Ein weiteres gängiges Vorurteil ist, dass Jungen häufiger hochbegabt seien als Mädchen. Fakt ist aber: Mädchen werden einfach nur seltener erkannt, da sie sich oftmals besser (an soziale Situationen) anpassen und so ihre Begabungen „verstecken“.

Weitere erwachsene Verhaltensweisen, die dazu führen können, dass Kinder ihre Begabungen nicht entfalten können, sind:

  • hohe Erwartungen und damit verbundener Leistungsdruck auf die Kinder
  • keine konsequente Förderung und damit fehlende Lern- und Übungsgelegenheiten 3

Mögliche Folgen von adultistischem Verhalten

Genauso vielfältig wie die Erscheinungsformen adultistischen Verhaltens sind auch die möglichen Folgen:

Zunächst suggeriert das ungleiche Machtverhältnis ein hierarchisches Gefälle mit einem Unten und einem erstrebenswerteren Oben. Dieses ungleiche Machtverhältnis muss nicht zwingend zwischen Erwachsenen und Kindern herrschen, sondern kann auch zwischen Kindern und Jugendlichen mit unterschiedlichem Alter vorkommen 2.

Durch Erfahrungen mit adultistischem Verhalten erleben Kinder zudem, dass sie und ihre Meinung nicht ernst genommen werden. Wenn solche Situationen vermehrt auftreten, werden die Erfahrungen möglicherweise verinnerlicht und die Kinder sind dann tatsächlich davon überzeugt, dass Erwachsene Dinge besser wissen und entscheiden sollten. Es wird von einem „verinnerlichten Adultismus“ gesprochen 1.

Kinder könnten daraus folgern, dass Erwachsene sie bevormunden dürfen, weil sie über mehr Wissen und Macht verfügen. Reaktionen können sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen äußern:

  • passives Verhalten
  • aggressives Verhalten
  • schwankendes Verhalten
  • Generalisierung von negativen Abwertungen auf die ganze Person
  • geringes Selbstwertgefühl
  • fehlendes Selbstvertrauen 1

Auf Noa und ihr Bedürfnis Lesen zu lernen bezogen, kann es passieren, dass Noa ihren Spaß an Büchern und Geschichten verliert. Sie könnte das Gefühl bekommen, dass sei noch nichts für sie und ihr Wunsch lesen zu lernen sei albern und unpassend. Ihr Vertrauen in sich selbst und ihre Fähigkeit auf die eigenen Bedürfnisse zu hören, könnten darunter leiden. Außerdem könnte es passieren, dass sie sich in der Kita passiv verhält und als Folge ihren Lieblingsbeschäftigungen gar nicht mehr nachgeht.

Adultismus reflektieren und in Institutionen handeln

Der erste Schritt, um eine adultismuskritische Haltung zu entwickeln, ist, Adultismus als solchen zu erkennen und auch zu benennen. Es ist notwendig, sich mit Vorurteilen gegenüber Kindern und Jugendlichen auseinanderzusetzen. Gesellschaftliche Normen, Werte und Regeln müssen hinterfragt und gegebenenfalls neu definiert werden. Wenn Erwachsenen selbst ihre adultistischen Verhaltensweisen erkennen, können sie ihre Verhaltens- und Handlungsweisen konstruktiv beenden und neu ausrichten, wenn es die Situation erlaubt 1.

Um Adultismus im Alltag entgegenzuwirken, muss bewusst Macht abgegeben werden. Kinder und Jugendliche haben das Recht auf Partizipation und auf Achtung ihrer Meinung. Sie müssen bei Entscheidungen, die ihre Lebenswelt betreffen, mitwirken dürfen. Dabei ist es bedeutend, dass die Beteiligung ernst gemeint ist. Die Kinder und Jugendlichen müssen merken, dass sie mit ihrem Handeln und ihrer Meinung aktiv etwas bewirken können 12. Dadurch werden neue Perspektiven und Möglichkeiten eröffnet sowie Hierarchien verschoben. Ein Beispiel aus der Praxis ist das Kinderparlament. Dort können Kinder beispielsweise innerhalb ihrer Nachmittagsbetreuung über Themen, die sie selbst betreffen, diskutieren, abstimmen und bestimmen. Damit eine echte Partizipation gewährleistet ist, müssen die Beschlüsse des Kinderparlaments im Betreuungsalltag beachtet und integriert bzw. eingeführt werden.

Was trägt dazu bei, dass Kinder ihre Begabungen entfalten können?

Damit Kinder ihre Begabungen und Potenziale entfalten können, ist es wichtig, ihre Bedürfnisse zu beachten und sie sowohl mit ihrem Ärger als auch ihren Wünschen wahr- und ernst zu nehmen. Nicht alle Rahmenbedingungen lassen es zu, dass jedes individuelle Bedürfnis erfüllt werden kann. Wichtig ist, dass die Kinder trotzdem lernen bzw. die Erfahrung machen, dass ihre Meinung und sie als Person zählen 1.

Um adultistisches Verhalten in Bezug auf Begabungsentfaltung zu verhindern, müssen Erwachsene es lernen zuzulassen, wenn Kinder mehr wissen als sie. Insbesondere hochbegabte Kinder verfügen über eine große Spannbreite an Wissen. Es ist absolut in Ordnung und auch normal, dass Erwachsene in diesem Fall nicht immer mithalten können, und sie müssen es auch nicht. Es kann als Chance gesehen werden, Neues zu lernen. Nur weil eine Person erwachsen ist, heißt dies nicht automatisch, dass sie kompetenter und klüger ist. Auch Erwachsene lernen immer noch dazu, denn wir Menschen lernen ein Leben lang 1.

Wichtig ist es außerdem, hochbegabte Kinder als heterogene und diverse Gruppe wahrzunehmen und die eigenen Vorurteile und Einstellungen gegenüber Hochbegabung zu reflektieren.

Eine persönliche Frage zum Schluss:
Was ist für mich fair/Fairness?

ZitatZitat

Für mich bedeutet faires Handeln, dass nicht alle Menschen gleichbehandelt werden, sondern gleichwertig. Dabei ist es entscheidend, die individuellen Bedürfnisse zu beachten und diese zu erfüllen. Fair ist demnach, wenn jede und jeder bekommt, was sie oder er individuell benötigt. Dabei spielen Gerechtigkeit und Ehrlichkeit eine große Rolle ebenso wie die moralischen Werte, an die wir glauben.

Gesa Hartenbach
ZitatZitat

Was sagen Kinder dazu?

ZitatZitat

Im Sport bedeutet Fairness für mich, dass man die Gegenspieler respektiert und niemandem schaden möchte.

Theo, 16 Jahre alt, 10. Klasse
ZitatZitat