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Begabtenförderung verlangt einen mehrperspektivischen Blick – William Sterns Beitrag zur gleichberechtigten Zusammenarbeit zwischen Psychologie und Pädagogik

Mit William Stern können wir etwas über die Bereicherung erfahren, die es mit sich bringt, wenn es gelingt, Erkenntnisse aus Psychologie und Pädagogik zusammenzuführen: Die Individualität des Kindes mit Potenzialen und Lebensbedingungen wird sichtbar.

August 2021

Von: Dr. Meike Sauerhering


William Stern und auch seine Frau Clara Stern können in Bezug auf das Thema Begabungsgerechtigkeit als Vordenker:innen gesehen werden. Einige der Themen, die heute in Zusammenhang mit Begabungsgerechtigkeit thematisiert werden, lassen sich bereits in den Texten von William und Clara Stern finden.

Begabungsgerechtigkeit bei Stern: Erforschung der Zusammenhänge von sozialer Lage, Begabung und Intelligenz

Seinen interdisziplinären Ansatz konnte Stern im Rahmen der Hamburger Schulreform von 1918 verwirklichen. Es sollte die Volkschule mit 9 Schuljahren geschaffen werden, die sich nach der vierten Klasse in zwei Züge gabelt: Den deutschen Zug (D-Zug), der weitere vier Jahre umfassen sollte sowie einen gesonderten fünfjährigen Zug für begabte Kinder. Dessen Lehrziele waren vergleichbar mit der preußischen Mittelschule und es sollten zwei Fremdsprachen unterrichtet werden (F-Klassen). William Stern erhielt die Möglichkeit, ein Auswahlverfahren für die 990 Schüler:innen für die 22 F-Klassen mitzugestalten [1] und es lohnt sich zu schauen, was wir daraus im Hinblick auf die aktuelle Praxis der Begabungsdiagnostik und Begabtenförderung lernen können. Stern unterstreicht:

„Erfreulicherweise war der Leiter des Hamburgischen Volksschulwesens […] sofort davon überzeugt, daß eine so umfassende pädagogische Aufgabe der Mitwirkung der Psychologie bedürfe; und gern hat das Psychologische Seminar Hamburg die Aufgabe übernommen, die Grundsätze dieser Mitwirkung auszuarbeiten und ihre Anwendung vorzubereiten.“ [2]

Bei der Beschreibung der „Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg“ fokussiert Stern verschiedene Aspekte, die auch in der modernen Diagnostik Berücksichtigung finden könnten oder sollten. Neben Aspekten, die die Testung bzw. Diagnostik selbst betreffen, unterstreicht er, dass es notwendig ist, sich ein umfassendes Bild von dem Individuum zu machen, um der „Schwere der Verantwortung bei der Begabtenauslese“ [3] gerecht zu werden, diese sollte weder bei der Psychologie noch der Pädagogik alleine liegen.

Das Ausleseverfahren

Auch wenn es uns schwer fällt, mit den Kenntnissen über die jüngere Geschichte und der Verwendung solcher oder ähnlicher Begrifflichkeiten nüchtern umzugehen, möchte ich an dieser Stelle einen Blick darauf werfen, was Stern damit meinte – auch unter Verwendung der 1918 (also deutlich vor der NS-Zeit) genutzten Begrifflichkeiten.

Das Verfahren teilte sich auf in eine sogenannte Vorauslese, die über die Benennung geeigneter Kandidat:innen durch Volksschullehrer:innen getroffen wurde, und die Nachlese, die sich aus dem Ausfüllen eines psychologischen Beobachtungsbogens (Anpassungsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Fantasie, Gemüt …) und der eigentlichen Testung zusammensetzte. Besonderer Beachtung gebühren hier William Sterns Überlegungen zur Wertschätzung der Perspektive der Pädagog:innen. Schon die Entwicklung des Beobachtungsbogen wies eine Verschränkung von Psychologie und Pädagogik auf. Für die Anwendung des Bogens erhielten die Lehrkräfte eine gesonderte Schulung, um diese in das Unterrichtsgeschehen integrieren zu können.

Wertschätzung der pädagogischen Perspektive

„Die Lehrerschaft hat das Recht, zu verlangen, daß ihre langjährige und vielseitige Kenntnis der Kinder mit verwendet werde. Dies geschieht ja freilich schon in hohem Maße dadurch, daß sie die Vorauslese zu treffen hat […]. Aber bei dem Argwohn, mit dem die Praktiker unsere Tätigkeit als Eingriff in ihre Gerechtsame geneigt zu betrachten sind, muß auch der Schein vermieden werden, als ob der Psychologe sich an die Stelle des Pädagogen setzen wolle. Und deshalb soll auch bei jener engeren Auswahl neben dem Testausfall die Fülle der Beobachtungen mitsprechen, die der Lehrer früher über den Schüler hat sammeln können.“[4]

William Stern erkennt an, dass er mit seiner Profession, der Psychologie, in ein fremdes Feld – das der Pädagogik – eindringt. Deutlich werden mit dem Zitat eine Wertschätzung und Anerkennung der Expertise der Lehrer:innen. Die psychologische Testung und die kontinuierlichen pädagogischen Alltagsbeobachtungen werden als zwei sich ergänzende Sichtweisen angeführt. Im modernen Jargon würden wir wohl hier darüber sprechen, dass es auf der Basis einer gefestigten Lehrer:in-Schüler:in-Beziehung möglich wird, (Prüfungs-)Leistungen zu kontextualisieren. Mögliche hemmende oder auch unterstützende Faktoren geraten erst darüber in den Blick.

Grenzen der Prüfungsmethoden

Sehr modern anmutend beschreibt William Stern, dass mit jeder „Prüfungsmethode, möge sie noch so exakt sein“ [5] die Gefahr einhergeht, dass der Geprüfte aus unterschiedlichsten Gründen nicht in der Lage sein könnte, in dieser Situation die von ihm geforderte Leistung zu erbringen – auch wenn er grundsätzlich das Vermögen hätte [6]. Zudem sei bei der Auswahl der Prüfungsmethoden auf Vielfältigkeit zu achten.

Sich ein vielfältiges Bild von den Kindern machen zu können, ist laut Stern notwendig, um besondere Intelligenz von Talent unterscheiden zu können. Die Trennlinie zieht sich aus Sterns Perspektive zwischen einseitigen Fertigkeiten, die als Talente zu bezeichnen sind und der allgemeinen geistigen Anpassungsfähigkeit, die es jemanden erlaubt, neue Aufgaben zu bewältigen [7].

Im Kontext der Auswahl der Schüler:innen für den F-Zug (Fremdsprachen) beschreibt Stern, dass bei einem sehr homogenen Bild der Fähigkeiten keine Zweifel bezüglich der Auswahl bestehen würden – bei durchgängig guten Leistungen seien die Schüler:innen in die F-Klassen aufzunehmen, bei durchgängig schlechten Leistungen nicht. Gerade jedoch bei den Kindern, bei denen das vorliegende Material uneinheitlicher sei, bedürfe es einer individuelleren Betrachtungsweise – unter anderem über die Hinzunahme der Lehrer:innenperspektive (siehe Zitat oben).

Ein weiterer Faktor, der hier zum Gelingen beitragen sollte, waren der interdisziplinär besetzte Planungsausschuss („der Schulrat, Schulinspektoren, einige Rektoren, Lehrer und Lehrerinnen sowie Psychologen“ [8]) sowie die „engere Aufnahmekommission (4 Pädagogen und der Referent)“ [9], die insbesondere bei den strittigen Fällen gefragt war. Diese Besetzung sollte dazu dienen, einen mehrperspektivischen Blick auf die Kinder zu werfen und möglichst gute Entscheidungen zu treffen. Stern unterstreicht jedoch:

„Auch dies Verfahren wird nicht vor Irrtümern und gelegentlichen Mißgriffen schützen; aber es ist immerhin das beste, das zur Zeit empfohlen werden kann.“ [10]

Wenn wir auf die heutige Praxis der Begabtenförderung schauen und berechtigterweise ebenfalls sagen können, dass es das Beste ist, was es im Moment gibt, könnten wir uns glücklich schätzen.

 

Dr. Meike Sauerhering ist Transferwissenschaftlerin im Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe). Sie studierte Erziehungswissenschaften und Sportwissenschaft, zudem verfügt sie über eine Erstausbildung als Erzieherin. Promoviert hat sie im Bereich Übergang KiTa / Grundschule und Professionalisierung.

Fußnoten

[1] vgl. Stern 1918, 132f

[2] ebd. 133

[3] ebd. 134

[4] ebd. 135

[5] ebd. 134

[6] vergl. zu diesem Aspekt auch den Blogbeitrag vom 1. August

[7] vgl. Stern 1916

[8] Stern 1918, 134

[9] ebd. 137

[10] ebd. 137

Literatur

Stern, William. Die Intelligenzprüfung an Kindern und Jugendlichen. Methoden, Ergebnisse, Ausblicke, zweite Auflage. Erweitert um: Fortschritte auf dem Gebiet der Intelligenzprüfung 1912-1915, Leipzig 1916 (Auszug: S. 125-133).

Stern, William. Die Methode der Auslese befähigter Volksschüler in Hamburg. In: Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik, 19. Jg., 1918, S. 132-143.