Underachievement-Blog

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Zum Wechselspiel von sozialem Hintergrund und Underachievement

Zum Wechselspiel von sozialem Hintergrund und Underachievement

Die soziale Herkunft hat einen enormen Einfluss auf den Bildungserfolg von Kindern. Ist das Risiko für das Entstehen von Underachievement bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen höher, wenn sie in einer Familie mit geringem Einkommen und Bildungsniveau aufwachsen? Unser Fallbeispiel zeigt, wie mit einer professionellen pädagogischen Haltung und entsprechender Unterstützung Probleme aufgefangen und gelöst werden können.

August 2023

Von: Miriam Lotze


Paulas Geschichte

Ein Mädchen, Paula, steht etwas schüchtern und verhalten auf dem Schulhof. Als wir ins Gespräch kommen, erzählt sie, dass sie nach der Trennung ihrer Eltern zunächst bei der Mutter wohnte und dann aus einer Großstadt an den Rand einer Kleinstadt zog, um bei ihrem Vater zu leben. Paula ist damit Teil einer Patchworkfamilie: Sie lebt nun mit ihrem Vater, seiner neuen Partnerin und dem gemeinsamen Kind zusammen, Paulas Stiefschwester. Große Sprünge kann Paulas Familie finanziell nicht machen. Die Familie lebt von einem geringen Einkommen, die Stiefmutter ist wegen der kleinen Schwester noch in Elternzeit. Besuche bei der Mutter finden nach dem Umzug nur selten statt, nach einiger Zeit bricht der Kontakt gänzlich ab. Paulas Versetzung in die 9. Klasse ist gefährdet. Sie kommt nur sporadisch zur Schule, langweilt sich im Unterricht, schreibt schlechte Noten. Paula versäumt auch, sich einen Praktikumsplatz zu organisieren.

Wie viel hat Paulas Underachievement auch mit ihrer sozialen Herkunft und der familiären Situation zu tun? Wie verschränken sich Ursachen von Underachievement an dieser Stelle mit den Bedingungen des Aufwachsens in der Familie? Forschungen zu diesem Zusammenhang gibt es bisher kaum. Zwei Aspekte zum Zusammenhang von sozialer Situation und Underachievement – das Selbstkonzept und das Lernverhalten – spielen auch in Paulas Geschichte eine Rolle 12.

Soziale Herkunft und Bildungserfolg

Die Bildungschancen von Kindern in Deutschland hängen sehr stark von Bildung und Einkommen der Eltern, also der sozialen Herkunft, ab. So besuchen deutlich mehr Kinder aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil das Abitur oder einen höheren Bildungsabschluss hat, ein Gymnasium 3. Neben der allgemeinen Bildungsorientierung der Familie ist der Bildungserfolg, also die Potenzialentfaltung, auch davon abhängig, in welchen familiären Verhältnissen Kinder und Jugendliche groß werden: Wie ist die finanzielle Situation? Gibt es eine Migrationsgeschichte? Wie ist der Bildungsstand der Eltern? Wie sind das Lernklima, die Begleitung und Unterstützung der Eltern beim Lernen?

Wenn Kinder früh Entwicklungsvorsprünge zeigen, kann das in der Familie auch Unsicherheit auslösen. Paulas Vater erzählt von den ersten Wochen seiner Tochter in der Grundschule: „Sie kam zu mir und hat gesagt, sie könne lesen. Ich so: ‚Ja klar, hier hast du ein Buch, dann zeig mal.‘ Und sie konnte das Buch tatsächlich flüssig vorlesen.“ Im Gespräch wird deutlich, dass die Familie zunächst ratlos war, wie sie mit den außergewöhnlichen Fähigkeiten ihrer Tochter umgehen sollte. Die Unterstützung der Schule bei der Förderung von und im Umgang mit Paula waren deshalb für die Familie besonders wichtig.

Das Familiencafé – als Familie zusammenarbeiten und miteinander reden

Gerade als es in der weiterführenden Schule noch schwieriger wurde, weil Paula schulabstinent geworden war, bot das Familiencafé der Schule und die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Lehrkräften eine zentrale Stütze: Paula sagt, dass sie viel besser versteht, was ihr Vater über ihre schulische Situation denkt, seitdem sie gemeinsam zum Familiencafé kommen. Auch die Lehrerkräfte, die das Familiencafé initiiert haben, beobachten, dass sich die Beziehung zwischen Vater und Tochter verändert hat und sie wieder (besser) miteinander reden können.

Gut beobachtet

Ein weiterer Schlüsselmoment liegt in der Zeit, in der eigentlich das Schulpraktikum anstand. Die Lehrkräfte und Paula hatten vereinbart, dass sie statt des Praktikums jeden Tag zur Schule kommt und an Aufgaben arbeitet. Der Lehrer erzählt: „Sie ist in der Zeit richtig aufgeblüht. Wie ausgewechselt kam sie jeden Tag. Nachdem wir ein paar Methoden geübt und ausprobiert hatten, arbeitete sie selbstständig an einem selbst gewählten Thema. Das war sehr schön, dies zu beobachten.“ Seither kommt Paula wieder regelmäßig zur Schule, sie hat Anschluss an die Klassengemeinschaft gefunden und ihre Versetzung in die nächste Klasse hat sie auch geschafft.

Selbstkonzept und Lernmotivation

Minderleistende hochbegabte Schüler:innen zeigen oft (infolge ihrer gemachten Erfahrungen) negative Einstellungen gegenüber Schule und Lernen, haben häufiger ein weniger gut ausgeprägtes Selbstkonzept und sind zudem stärker betroffen von sozial-emotionalen Verhaltensproblemen. Leistung ist immer auch abhängig von nicht-kognitiven Persönlichkeitsmerkmalen. Dazu zählt auch die Familie als Umgebung für Aufwachsen und Lernen.

Familien mit wenigen Ressourcen sind eingeschränkter, die Begabungen ihrer Kinder zu fördern – auf finanzieller Ebene mit Aktivitäten außerhalb der Schule einerseits, andererseits überlagern sich die Herausforderungen in den Familien möglicherweise so, dass Zeit und Energie zur Förderung der Lernmotivation der Kinder keinen hohen Stellenwert einnehmen können. Auch für das Selbstkonzept hat das Folgen. Kann den Begabungen der Kinder im familiären Kontext kaum Aufmerksamkeit geschenkt werden, fehlt ihnen als Schüler:innen das Bewusstsein für ihre eigenen Potenziale und Ressourcen.

Bei Paula ist in der Diagnostik deutlich geworden, dass sie ein geringes (Fähigkeits-)Selbstkonzept hat. Die Lehrkräfte versuchen in Zusammenarbeit mit den Eltern genau dies nun zu unterstützen, indem sie die Begabungen von Paula in den MINT-Fächern fördern, ihre dort gezeigten Fähigkeiten reflektieren und versuchen, diese auf andere schulische Bereiche und Aufgaben zu übertragen. Lehrkräfte können an dieser Stelle eine zentrale Funktion übernehmen, wenn sie ressourcenorientiert die Potenziale und gezeigten Begabungen rückmelden, also ein Bewusstsein schaffen und gezielt fördern.

Lernmethoden

Hochbegabte Schüler:innen haben in der Grundschule häufig noch keine Probleme. Nach dem Übergang in die weiterführende Schule fehlen ihnen aber dann die richtigen Methoden, sie wissen oft einfach nicht, wie sie erfolgreich lernen. Dies müssen sie sich manchmal mühsam aneignen, weil sie es bisher in ihrer Bildungsbiografie nicht brauchten.

Mit Blick auf die soziale Herkunft und die Familie ist bekannt, dass Fähigkeiten des (selbstgesteuerten) Lernens bei Kindern und Jugendlichen mit niedriger Bildungsherkunft geringer ausgeprägt sind als bei gleichaltrigen Schüler:innen mit gehobener Bildungsherkunft 4. Auch metakognitive Kompetenzen, wie etwa Leistungsmotivation, Durchhaltevermögen oder Frustrationstoleranz, werden insbesondere durch das familiäre Lernklima geprägt und sind bei Kindern und Jugendlichen mit niedriger Bildungsherkunft auch weniger stark ausgeprägt. Das Wissen und das Nachdenken über das Lernen an sich, über Lernmethoden sowie ihre Bedeutung für den Erfolg in der Schule fehlen in der Familie schlicht und können dadurch auch weniger gefördert werden.

Bei minderleistenden hochbegabten Kindern ist häufig ebenfalls festzustellen, dass die angesprochenen Fähigkeiten weniger gut ausgeprägt sind. So verschränken sich Underachievement und die Bedingungen, die das soziale Umfeld für das Kind ermöglicht, miteinander – sie erhöhen das Risiko von Underachievement sogar. Somit führt dies zu einer doppelten Benachteiligung und letztlich zu Bildungs- und Begabungsungerechtigkeit.

Hilfe durch Learncoaching

Ein Lerncoaching kann minderleistende Schüler:innen dabei unterstützen, sich diese Methoden anzueignen. Hier wird gezielt in den Blick genommen: Wie lernt Paula aktuell? Wie kann das, was gut klappt, auch auf andere Lernmethoden und Fächer übertragen werden? Wie organisiert Paula ihre Schulsachen? Wie kann Paula sich auch zu Hause eine gute Lernumgebung und einen ruhigen Platz für ihre Schularbeiten schaffen? All diese Fragen zielen darauf ab, das Nachdenken über das Lernen zu fördern. Zusätzlich kann im Lerncoaching zwischen Lehrkräften und Schüler:innen eine vertrauensvolle Beziehung aufgebaut werden, die helfen kann, Underachievement nicht nur zu begegnen, sondern auch früher zu erkennen.

Zum Weiterdenken:

  • Wie können Sie Ihre Schüler:innen ressourcenorientiert in ihren Fähigkeiten fördern?
  • Wie können Sie dazu beitragen, das familiäre Umfeld und biografische Erfahrungen so zu berücksichtigen, dass Schüler:innen ihr Potenzial voll entfalten können?
  • Welche Möglichkeiten haben Sie, mit den Eltern zusammenzuarbeiten und gemeinsam ein gutes Lernumfeld für die Schüler:innen zu schaffen?