Underachievement-Blog

Allgemein

Von „nicht beschulbar“ bis zum Abitur: eine Chance für Twice Exceptionals

Von „nicht beschulbar“ bis zum Abitur: eine Chance für Twice Exceptionals

Twice Exceptionality (2e) bedeutet: Eine Person ist hochbegabt und hat gleichzeitig Einschränkungen beim Lernen, in der Wahrnehmung oder in der Entwicklung. Twice Exceptionality kommt nicht häufig vor; die Gefahr für eine daraus resultierende Belastungssituation, zum Beispiel in Form von Underachievement, ist aber hoch. Deshalb ist es wichtig, die Bedarfe von 2e-Lernenden zu kennen und für Unterstützung zu sorgen.

September 2023

Von: Claudia Pauly und Sabine Breyel


Die Oswald-von-Nell-Breuning-Schule in Offenbach

Wir haben mit Yvonne Flath (stellvertretende Schulleiterin) und John Flath (Abteilungsleiter 2e) von der Oswald-von-Nell-Breuning-Schule (OvNB-Schule) in Offenbach gesprochen. Die Schule hält eine Abteilung vor, in der ausschließlich 2e-Lernende unterrichtet werden.

Besuch an einer ganz besonderen Schule

Es ist 9:30 Uhr, ein Julitag, die Hitze der letzten Tage steht noch im Klassenraum. Blauer Linoleumboden, Tische, Stühle, ein paar Karten an der Wand, alles ganz normal. Lediglich das große Smartboard an der Wand fällt auf. Die Englischlehrerin wird es in der nächsten Stunde für Notizen nutzen, während sie mit dem Kurs eine Kurzgeschichte diskutiert. Das passiert, nächste Auffälligkeit, in recht hohem Tempo und sehr flüssigem Englisch. Und, die dritte Auffälligkeit: in einer ungewohnt kleinen Lerngruppe.

Heute sitzen fünf Jungen und ein Mädchen im Raum. Wenn alle da sind, sind es 13 Jugendliche, die hier auf ihr Abitur zusteuern. Oft sind aber nicht alle da. Denn an der OvNB-Schule lernen Kinder und Jugendliche, die schon Einiges erlebt und durchlebt haben: Schulwechsel, Mobbing, Ängste, Depressionen, fast immer kombiniert mit dem Label „nicht beschulbar“. Das hängt mit ihren außergewöhnlichen Eigenschaften zusammen. Denn so vielfältig ihre Persönlichkeiten und Geschichten auch sind, sie alle gehören zu den Twice Exceptionals (2e).

Twice Exceptional – was bedeutet das eigentlich?

2e-Lernende sind hochbegabt und haben zugleich Einschränkungen im Lernen, in der Wahrnehmung und/oder in der Entwicklung, was sich z. B. in Problemen beim Lesen oder Schreiben, beim Fokussieren der Aufmerksamkeit oder in Schwierigkeiten beim Verstehen sozialer Hinweise äußern kann 1. Nicht alle 2e-Lernenden entwickeln zwingend ein Underachievement. Allerdings erhöht die Kombination von belastenden Faktoren die Gefahr, weit unter dem persönlichen Leistungspotenzial zu bleiben.

Merkmale und Folgeerscheinungen

Die Schüler:innen an der OvNB-Schule gehören zu der Gruppe von 2e-Lernenden, die mit Underachievement zu kämpfen haben. Sie kommen in der Regel zudem schon mit Diagnosen wie ADHS, Lese-Rechtschreib-Schwäche (LRS), Autismus-Spektrum-Störung, Angststörung oder Depression in die Einrichtung. Dabei können vor allem Angst und Depression nicht nur Ursache, sondern auch Folge von 2e sein: Die Symptome können dadurch entstehen, dass Kinder und Jugendliche aufgrund ihrer Beeinträchtigung lange Zeit hohen Belastungen ausgesetzt sind, z. B. mangelndem Verständnis, einem unpassenden Umfeld und fehlender Unterstützung. Gelingt es später doch, die eigentlichen Ursachen zu klären, haben diese Schüler:innen häufig schon eine sehr schwierige Bildungsbiografie hinter sich und sind psychisch belastet.

Unter dem Radar

Twice Exceptionality birgt die Gefahr, dass eine oder beide Außergewöhnlichkeiten nicht erkannt werden. So kann die Hochbegabung dominieren und dabei Beeinträchtigungen verbergen. Andersherum können Schwierigkeiten im Vordergrund stehen und den Blick auf die Hochbegabung verstellen. Und möglich ist auch, dass sich beide Aspekte gegenseitig verdecken und weder das eine noch das andere erkannt wird 2.

In den ersten Schuljahren fliegen 2e-Lernende oft noch „unter dem Radar“. Sie verwenden viel Kraft darauf, Schwierigkeiten zu verdecken, was durch die hohe Begabung auch gelingt. Insbesondere Mädchen halten diesen Zustand oft recht lange durch. Genau dieser Kraftaufwand schwächt die Kinder und Jugendlichen aber mehr und mehr, weiß Yvonne Flath: „Die Mädchen kommen erst so ab der siebten, achten Klasse, weil sie versuchen, sich extrem anzupassen, sodass die Schule oft gar nicht merkt, dass sie Probleme haben. Und dann, von heute auf morgen, können sie nicht mehr.“ Mittlerweile scheint die Aufmerksamkeit für betroffene Mädchen allerdings zu steigen: War die Einrichtung noch vor einigen Jahren eine reine „Jungenschule“, liegt der Mädchenanteil inzwischen bei 30 bis 40 Prozent.

Bei vielen Schüler:innen der OvNB-Schule wurde die Twice Exceptionality erst spät entdeckt – ein Schicksal, das viele 2e-Lernende betrifft. Dies halten Yvonne und John Flath für ein großes Problem, welches gerade auch im Regelschulbereich viel mehr Aufmerksamkeit bedürfe: „Alle unsere Schüler fallen aus dem Gymnasium heraus. Weil am Gymnasium dieses ganze Wissen über die klinischen Problematiken noch gar nicht angekommen ist“, stellen sie fest.

Erkennen

Weil 2e-Lernende oft schwer als solche zu identifizieren sind, ist es besonders wichtig, offen für verschiedene Interpretationen des Verhaltens von Kindern und Jugendlichen zu sein: sowohl in Richtung Lernschwierigkeit als auch Hochbegabung. Gespräche mit den Eltern, mit weiteren Bezugspersonen sowie den Schüler:innen selbst helfen, ein umfassendes Bild zu gewinnen: Wie verhalten sich Schüler:innen in verschiedenen Fächern? Wie geht es ihnen zu Hause? Wie werden sie in anderen Kontexten erlebt?

Solche Beobachtungen sind auch hilfreich, wenn eine psychologische Diagnostik durchgeführt werden soll. Psycholog:innen können Testverfahren dann angemessen auswählen, also z. B. bei dem Verdacht auf eine LRS einen passenden Intelligenztest einsetzen. Diese Untersuchungen sollten von psychologischem Fachpersonal durchgeführt werden, das neben psychologischen Störungsbildern auch sehr gute Kenntnisse zum Thema Hochbegabung hat 3.

Unterstützen

Nicht nur Psycholog:innen, auch Lehrkräfte sollten sich mit Twice Exceptionality auskennen, um sensibel für dessen Anzeichen zu sein und zu verstehen, was die paradoxe Situation von 2e-Lernenden ausmacht. „Wenn man das nicht weiß, hat man für diese Schüler auch kein Verständnis. Und wenn ich kein Verständnis habe, dann gerate ich in einen Kampf mit der Schülerin oder dem Schüler. Und dann habe ich auch keine Geduld. Aber all diese Dinge brauchen diese Schüler:innen: Wissen, Verständnis, Geduld“, berichtet John Flath.

Viele Kinder und Jugendliche an der OvNB-Schule bringen Defizite in sozialen Kompetenzen mit. „Diese Schüler:innen können keine Partnerarbeit, geschweige denn Gruppenarbeit oder sich zum Anfang mit dem Lehrer unterhalten“, so Yvonne Flath. Das Verhalten einiger Kinder und Jugendlicher sei impulsiv, manchmal grenzüberschreitend. Notwendig sei also auch sonderpädagogische Unterstützung. Bei Bedarf gebe es zudem psychotherapeutische oder psychiatrische Betreuung.

Fördern

Gleichzeitig sitzen hier Kinder und Jugendliche, die sich oft erstaunliches Wissen angeeignet haben: „Ich hatte einen 11-Jährigen, der mir bei der Vorstellung eine halbe Stunde einen Vortrag über den Dritten Punischen Krieg gehalten hat. Dieser Schüler war seit zwei Jahren nicht zur Schule gegangen“, berichtet Yvonne Flath. Solches Potenzial muss ebenfalls Berücksichtigung finden. 2e-Schüler:innen benötigen also neben sonderpädagogischer Unterstützung auch einen begabungsangemessenen Unterricht.

Als ganz konkrete Maßnahmen, die übrigens auch gut in der Regelschule funktionieren können, bieten sich dabei folgende an:

  • Bereitstellung potenzialorientierter Wahlmöglichkeiten im Unterricht
  • Herstellung konkreter Lebensweltbezüge
  • Einbindung in Talentförderung
  • Schaffung personalisierter Lernangebote 4

Angenommen und sicher

Mehr noch als andere Schüler:innen sind 2e-Lernende auf eine psychologisch sichere Umgebung angewiesen. Sie müssen sich zugehörig fühlen können. Das gelingt dann gut, wenn Lehrende sich für ihre Schüler:innen als Personen interessieren – für ihre Träume und Hoffnungen, für ihre Herausforderungen und Ängste, für ihre Interessen und Fähigkeiten 5.

An der OvNB-Schule scheint dies zu gelingen. Viele Schüler:innen fühlen sich hier zum ersten Mal wieder wohl. Neben den intensiven Beziehungen der Lehrkräfte zu den Schüler:innen liegt das auch daran, dass die Kinder und Jugendlichen hier auf Menschen treffen, die ähnliche Erfahrungen und Denkkonzepte haben wie sie. „Nach ein oder zwei Wochen Probebeschulung gucken die Schülerinnen und Schüler mich an und sagen: ‚Frau Flath, endlich mal normale Schüler!‘ Sie kommen hier rein und fühlen sich zu Hause angekommen und sicher“. Und so gelingt es den meisten auch, wieder dauerhaft Fuß im Schulsystem zu fassen. Kaum jemand verlässt die Schule ohne Realschulabschluss, ca. 40 Prozent besuchen die gymnasiale Oberstufe. Manche schaffen in diesem Rahmen die Reintegration ins Regelschulsystem, manche benötigen auch bis zum Abitur einen geschützten Raum. Die OvNB-Schule ermöglicht das und leistet so einen wichtigen Beitrag, damit auch Hochbegabten mit besonderen Herausforderungen etwas Essenzielles gelingt: ihr Potenzial voll auszuschöpfen.

Info

  • Die OvNB-Schule bietet individuelle Beratung für betroffene Eltern, Lehrkräfte und Jugendämter nach Absprache von Montag bis Freitag an.
    Kontakt: yvonneflath@icloud.com

Zum Weiterdenken:

  • Wie kann es Ihnen gelingen, frühzeitig zu erkennen, wenn besonders begabte Schüler:innen (psychologische) Unterstützung benötigen?
  • An wen können Sie sich neben dem genannten Beratungsangebot noch wenden: Welcher Schulpsychologische Dienst ist für Ihre Schule zuständig?
  • Welche psychologischen/psychotherapeutischen Angebote gibt es in der Nähe? Sind diese Informationen dem ganzen Kollegium an Ihrer Schule bekannt?