Hochbegabte unterstützen

Beratung

Wenn Hochbegabte in ihrem Anderssein nicht anerkannt werden: Risiken für die psychische Gesundheit

Nicht immer erleben Hochbegabte Verständnis für ihre Bedürfnisse und fühlen sich im Kreis ihrer wichtigsten Bezugspersonen bedingungslos angenommen und geliebt. Kleinere und größere Konflikte dieser Art kennen viele Familien hochbegabter Kinder und sie begegnen uns in der Beratungsarbeit immer wieder. Doch unter welchen Umständen können tiefgreifendere Beziehungsprobleme und pathologische Beziehungsmuster entstehen, die sich auf das seelische und körperliche Wohlbefinden auswirken? Wann ist psychotherapeutische Hilfe nötig, und wie können Hochbegabte ihr seelisches Gleichgewicht wiederfinden?

Von: Nadja Olyai und Christine Koop


Dr. Nadja Olyai hat dazu jemanden befragt, der über jahrzehntelange Erfahrung im Feld der psychosomatischen Erkrankungen verfügt: Dr. Wolfgang Kämmerer beantwortet in unserem Interview Fragen nach den besonderen Risiken für die Entwicklung psychosomatischer Störungsbilder und nach den Umständen, die eine gelingende Integration der besonderen Begabung ins Selbstkonzept erlauben.

Interview mit Dr. Wolfgang Kämmerer

Herr Kämmerer, Sie haben als Arzt für Innere Medizin, als Arzt für Psychosomatische Medizin und Psychoanalytiker viele Menschen mit psychosomatischen Störungsbildern behandelt und sich mit ihren persönlichen Geschichten befasst. Inwiefern haben besondere Begabungen dieser Menschen eine Rolle bei der Entstehung ihrer Krankheiten gespielt?

Seelische Not und Krankheiten entstehen vielfach – nicht immer und sehr vereinfacht ausgedrückt – wenn Begabte von den ihnen Wichtigen nicht so gesehen, anerkannt und in einer Weise behandelt werden, wie es erforderlich wäre, um ihnen gerecht zu werden. Die Betroffenen versuchen sich dies zu erklären, indem sie sich die Schuld dafür zuschreiben, dass sie den Erwartungen der anderen nicht genügen. Ohne empathisch-resonante Antwort auf ihre Bedürfnisse erkennen sie nur schwer, wer sie sind, und wissen nicht, was sie können. Unter den Seinen zu vereinsamen, bedeutet ein großes seelisches und soziales Leid. Das kann dazu führen, dass Menschen sich sozial zurückziehen, Depressionen oder diffuse Ängste entwickeln oder psychosomatisch erkranken – so entsteht ein furchtbares Leiden, bis sie endlich andere Menschen finden, die auf ihre Bedürfnisse angemessen antworten.

Welche Erfahrungen sind kritisch für hochbegabte Kinder und Jugendliche?

Hochbegabte denken komplexer, sie erfassen einen viel größeren Horizont von Phänomenen, haben Freude daran, sich mit diesen auseinanderzusetzen, denken auch gerne kritisch. Und oft sind sie auch hochsensitiv und nehmen Dinge viel intensiver wahr. Das führt in der Begegnung mit anderen zu unterschiedlichen Reaktionen: Einige zeigen sich irritiert, andere werden darüber ärgerlich oder fühlen sich gekränkt. In ihren Reaktionen drücken sie Befremden aus, signalisieren den Hochbegabten, sie seien komisch oder beschimpfen sie oder werten sie in irgendeiner anderen Form ab.

Dr. Wolfgang Kämmerer
ZitatZitat

Bei denjenigen, die ich behandelt habe, fand ich übermäßig viele dieser kleinen subtilen Entwertungen, die sie tagtäglich und in für sie wichtigen Beziehungen erlebten – in der Familie, zu Lehrern oder Gleichaltrigen.

Dr. Wolfgang Kämmerer
ZitatZitat

Es heißt, Reaktionen der Umwelt, die als stigmatisierend erlebt werden, können die erfolgreiche Integration der Begabung in die Persönlichkeit erschweren oder gar behindern. Wie führen solche Erfahrungen zu seelischen Beeinträchtigungen?

Je rigider die sozialen Normen, desto schwerer ist es für Begabte, dem zu genügen. Hierfür ein Beispiel: Die Mutter einer Patientin wurde zur Kita-Leitung gebeten, weil ihre Tochter aus Sicht dieser Leitung „auffällig“ sei. Anlass war, dass sich ein 4-jähriges Mädchen in einer zu vollen Kita regelmäßig eine ruhigere Ecke gesucht hat, um dort mit zwei bis drei anderen Kindern zu spielen. Die Mutter wurde einbestellt, weil ihre Tochter „komisch“ sei und Therapie bräuchte. Es gab kein Verständnis dafür, dass manche Kinder ruhiger als andere spielen und das nicht krank ist. Das Bemerkenswerte daran scheint mir, dass sich eine Kita-Leitung herausnimmt, nach Gutdünken „normal“ und „krankhaft“ zu definieren. Natürliche Differenzen werden anhand einer fiktiven Norm pathologisiert. Kinder, die solches mehrfach erleben, finden sich selbst zunehmend komisch, zeigen weniger von sich, um dazuzugehören, mitmachen zu dürfen, auch wenn es ihnen nicht guttut. Geht Anpassung bis zur Selbstverleugnung, verzweifeln die Betroffenen langfristig an sich selbst.

Das erinnert ein wenig an schwarze Pädagogik …

Tatsächlich fühlt man sich daran erinnert. Billigen Eltern ihrem Kind nicht zu, die Welt auf seine Weise wahrzunehmen, sondern beharren darauf, dass alles nur so ist (Indikativ!), wie sie es sehen, beginnt ein negativer Zirkel, der krank macht. Das Kind fühlt sich nicht verstanden, die Eltern ebenso nicht. Ziehen sich die Beteiligten innerlich zurück und resignieren, wird es ihnen auch ohne offene Ablehnung und Einschüchterung durch autoritäre Strenge immer schwerer, sich zu zeigen und zu entfalten.

ZitatZitat

Jeder, der versucht, anders als entlang seiner eigenen Talente, Möglichkeiten und Grenzen zu leben, erlebt ein zunehmendes Gefühl innerer Leere und der Orientierungslosigkeit. Das macht unglücklich und krank.

Dr. Wolfgang Kämmerer
ZitatZitat

In den seltensten Fällen wird es aber so sein, dass Eltern bewusst ist, was ihre Reaktionen beim Kind auslösen. Eher im Gegenteil: Sie wollen in erster Linie das Beste für ihr Kind …

Nehmen wir als Beispiel den Film „Vitus“: Er zeigt in beeindruckender Weise, wie die Eltern wissen, dass sie einen sehr netten, hochbegabten Jungen haben und alles für ihn tun, und dennoch keinen Zugang zu ihm finden. Statt „ihrem Herzen“ zu folgen, wollen sie ständig das Beste, im Glauben, „natürlich“ besser zu wissen, was für ihren Sohn richtig ist. Dies setzen sie mit subtiler Gewalt durch, bis sich der Sohn ihnen entzieht. Einzig der Großvater findet einen Zugang zu seinem Enkel, indem er ihn so annimmt, wie er ist. In gelassener Ruhe basteln sie und schauen nach den Blumen und träumen in die Wolken.

Wie können Menschen wieder ins seelische Gleichgewicht kommen, wenn sie es einmal verloren haben?

Für die Betroffenen ist es unbegreiflich, was sie in den Augen einer verständnislosen Mitwelt falsch machen. In tiefer Loyalität halten sie an der Illusion fest, dass ihre Eltern es doch „gut“ mit ihnen meinen und natürlich wissen, was richtig und falsch ist: „Es sind doch meine Eltern“. Die Betroffenen sind davon überzeugt, dass sie etwas falsch gemacht haben. In einer Psychotherapie dauert es Monate bis Jahre, bis die Betroffenen mühsam von dieser Illusion Abstand nehmen. Der Schmerz und die Scham darüber, wie sehr sie sich selbst und ihre Bedürfnisse verleugnet haben, um den familiären Frieden zu erhalten, ist ungeheuerlich. Lange zu groß, um sich ihm zu stellen, schmerzlich und beschämend. Deshalb muss die Erkenntnis, einem so offensichtlichen Irrtum aufgesessen zu sein, so lange vermieden werden, bis genügend Ich-Stärke und Selbstbewusstsein gewachsen ist.

Braucht es immer Psychotherapie?

Erst wenn Hochbegabte sich nicht mehr als unbedingt nötig den Erwartungen Anderer anpassen, beginnen sie, sich für sich selbst zu interessieren und für sich selbst einzutreten. Dann nehmen Ängste, Depressionen oder psychosomatische Beschwerden ab oder entwickeln sich erst gar nicht. In der wachsenden Gewissheit, sein zu dürfen, wie man eben ist, und in empathischer Resonanz Antworten zu bekommen, beginnen die Begabten sich zu entfalten. Ein erfülltes Leben bedarf des Austausches und der Resonanz mit der Welt. Ansonsten droht ein Vegetieren in Verzweiflung.

ZitatZitat

Um Begabten empathisch-resonant zu antworten, bedarf es keiner Psychotherapie. Ein grundsätzliches ‚Ja‘ zu dem, wie eine Person ist, Signale, dass sie willkommen ist und geliebt wird, genügen.

Dr. Wolfgang Kämmerer
ZitatZitat

Resonanz wie bei einem Musikinstrument?

Ja, tatsächlich. Jedes Lebewesen tönt, schwingt, teilt sich mit und hofft auf Antwort. Ohne Antwort keine Selbstgewissheit, oft nicht einmal eine Gewissheit, überhaupt als Person zu existieren: Lebewesen benötigen die Erfahrung eines resonanten Austausches mit ihrer Mitwelt. Nur so können sie existieren. Tönen mehrere auf ihre Weise, ergibt sich ein gemeinsamer Klang, der mehr ist als die Summe der Töne, ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und Gemeinschaft. Dies belebt die Welt.

Was heißt das für Lehrkräfte und Beratende, die mit Hochbegabten arbeiten?

Wenn sie offen auf Hochbegabte zugehen, selbst wenn sie glauben, dass sie nicht genug über diese Besonderheit wissen, können sie nicht viel falsch machen. Begabte können viel besser sagen, als man vermutet, was sie brauchen, wenn man darauf einzugehen bereit ist. Es genügt, sich der Begegnung zu öffnen, für den anderen zu interessieren und darauf zu antworten. Mit einer lächelnden Unterstützung und immer neuer Ermutigung können Eltern, Lehrer und Psychotherapeuten ihnen ein Vorbild sein. Ein Vorbild, das von diesen ebenso erhofft und benötigt wird wie von allen anderen.

Was möchten Sie Menschen mit auf den Weg geben, die mit hochbegabten Kindern umgehen?

Jeder Mensch ist anders und hat ein Recht, als anders gesehen und gehört zu werden. Dies gilt insbesondere für die Hochbegabten. Ihre vielfältigen Besonderheiten lassen sie leicht zu einer Randgruppe werden. Viele werden aus Neid und Unverständnis der Mehrheit zu deren Sündenböcken, werden das Ziel von stereotypen Zuschreibungen oder Abwertungen.

ZitatZitat

Das Problem hochbegabter Sündenböcke ist es, dass sie zu klug sind. Sie tolerieren die falschen Zuweisungen ‚um des lieben Friedens willen‘. Sie passen sich bisweilen bis zur Unkenntlichkeit an.

Dr. Wolfgang Kämmerer
ZitatZitat

Dies gilt gerade für Kinder, die in einer Umwelt aufwachsen, die kein Verständnis oder Interesse an ihnen hat. Oft sind sie selbst irgendwann davon überzeugt, nicht in diese Welt zu passen. Sie fühlen sich nur geduldet, solange sie nicht widersprechen.

Diese Haltung macht krank in den vielfältigsten Formen. Hier ist eine psychosomatische Behandlung angezeigt. Ziel dieser Behandlung muss sein, die Betroffenen zu ermutigen, nichts als sie selbst zu sein, für sich selbst einzutreten und die unterlassene Entfaltung der eigenen Interessen und Talente wieder aufzugreifen.