Hochbegabte unterstützen

Kita

Mathe hochbegabt, Deutsch ungenügend

Einkommensarmut der Eltern kann die Potenzialentfaltung der Kinder verhindern. Nicht aber, wenn Begabungen gefördert und Schule und Kita eng zusammenarbeiten.

Von: Nadine Seddig und Lisa Pohlmeier


Bild: istock/Nadezhda1906

Alessio ist 10 Jahre alt. Er besucht die vierte Klasse einer Grundschule in Mühlenberg, einem Stadtteil von Hannover –  der als sozialer Brennpunkt gilt. Bald wird Alessio in die fünfte Klasse des Gymnasiums gehen. Er ist mathebegabt und konnte schon als Vorschulkind im Zahlenraum bis 100 addieren und subtrahieren. Sorge bereitet Alessio jedoch das Fach Deutsch, er kann nicht so gut Deutsch sprechen und hat dadurch Probleme mit Rechtschreibung und Grammatik. Aber Alessio ist selbstbewusst und weiß, was er sich zutrauen kann und wo er sich vielleicht auch mal Hilfe holen muss.

Dass Alessios bisheriger Bildungsverlauf dennoch so positiv verlief, ist nicht selbstverständlich. Denn Alessios Familie ist von Einkommensarmut betroffen, hat eine Migrationsgeschichte und spricht deswegen zu Hause wenig Deutsch. Einen großen Anteil an seinem bisherigen positiven Bildungsverlauf hat die Kita, die Alessio besuchte. Sie arbeitet inklusiv, fördert Begabungen und ist stärkenorientiert. Als er im Alter von vier Jahren in die Einrichtung kam, sprach Alessio kaum ein Wort. Dennoch fiel seiner Erzieherin seine Mathebegabung auf. Eine Psychologin stellte bei einem Test Erstaunliches fest: Im Bereich Sprachverständnis hat Alessio große Lücken, in Mathematik sind seine Kompetenzen überdurchschnittlich, auf dem Niveau einer Hochbegabung. Denn: Dass ein Vierjähriger bis 100 rechnen kann, ist außergewöhnlich.

Eltern überrascht über Begabungen

Die Kita von Alessio begann, die Einschätzung der Psychologin sowie die pädagogischen Beobachtungen als Grundlage für eine inklusive und individuelle Förderplanung zu nutzen. In Teamsitzungen überlegten die Fachkräfte, wie genau Alessio im Bereich Sprache gefördert werden könnte, damit er gleichzeitig sein Potenzial im mathematischen Bereich besser entfalten kann. Die pädagogischen Fachkräfte begannen, Spiele und Aktivitäten zusammenzustellen, die Alessio förderten und forderten. So bastelten sie gemeinsam mit ihm das Modell einer Sonnenuhr, um es anschließend im Garten in Groß nachzubauen. Brettspiele zum Thema Zeit und Zahlen schafften sprachliche Anregungen für Alessio. Da die Eltern wenig Geld hatten, lieh die Kita der Familie Spiele und Materialien aus. Das förderte wiederum die Kommunikation mit den Eltern, die überrascht waren, über welche mathematischen Fähigkeiten ihr Sohn verfügt.

Begabungsfreundlich fördern

Von begabungsfreundlicher, inklusiver und individueller Förderung können alle Kinder –  egal welche Lebensgeschichte sie mitbringen –  profitieren. Sie trägt spezifischen Lernbedürfnissen von Kindern Rechnung. Das ist insbesondere für Kinder wie Alessio wichtig, deren Eltern wenig Geld für eine Freizeitförderung haben. Bildung ist ein sehr wichtiger Baustein, um die Armutsspirale zu durchbrechen.

Begabungsfreundlich bedeutet, stärkenorientiert auf Kinder zu schauen und den Blick auf ihre Potenziale zu richten. Bei individueller Förderung geht es darum, die Motivation von Kindern aufrechtzuerhalten und zu steigern, ihre eigene Bildungs- und Lernbiografie mitzugestalten. Dazu gehört der multiprofessionelle Austausch – wie im Team von Alessios Kita mit einer Psychologin.

In Kitas kommt es darauf an, die Lernumgebung und die eingesetzten Methoden kreativ zu gestalten, d. h. auf die Bedürfnisse der Kinder individuell einzugehen und sie mitbestimmen zu lassen. Das Ziel muss sein, viele Möglichkeiten anzubieten, damit Kinder Erfahrungen sammeln und lernen können, ihre Interessen auszuleben und kennenzulernen.

Nachdem die Förderung von Alessio im Alltag praktisch umgesetzt wurde, zeigten sich deutliche Erfolge. Über die Angebote zum Thema Zeit und der gemeinsamen Gestaltung der Sonnenuhr im Garten der Kita wurden Alessios Motivation und Freude geweckt, sich sprachlich mit anderen Kindern und den Fachkräften auszutauschen.

Kita und Schule als lernende Gemeinschaft

Als Alessio in die Grundschule kam, wusste er, was er konnte und wo seine Stärken lagen. Er hatte schon vor der Einschulung Kontakt zur Grundschule im Stadtteil, da eine enge Kooperation zwischen Kita und Grundschule bestand. Die Institutionen arbeiten nach dem Konzept der Ko-Konstruktion, also dem Lernen in Zusammenarbeit, und verstehen sich als lernende Gemeinschaft.

Die Lehrkräfte der Grundschule und Fachkräfte der Kita erarbeiten ein Lernportfolio für alle Kinder, das in der Kita eingesetzt und anschließend in der Schule weitergeführt wird. So auch für Alessio. Unter Einbezug und Eigenaktivität der Kinder werden in diesem Portfolio die individuellen Lernerfolge der Kinder festgehalten. Er selbst konnte in dieses Portfolio hineinschreiben oder malen, was er aus seiner Sicht gelernt hatte. Dabei kam es nicht auf das Dokumentieren von Kompetenzen beim Lesen, Schreiben, Rechnen an, sondern es durfte alles festgehalten werden, wofür er sich interessierte oder was er besonders gut fand. So gestaltete Alessio mehrere Seiten in seinem Portfolio, auf denen er verdeutlichte, inwiefern eine Sonnenuhr als Messinstrument für Zeit dienen kann. Alessio erhielt damit die Chance zu erfahren, wo seine eigenen Interessen und Stärken liegen und wie er diese selbst einschätzt. Die Arbeit mit dem Portfolio bot ihm jedoch auch die Möglichkeit, kritisch zu hinterfragen, in welchen Bereichen er welche Lernziele anstreben könnte.

Um Begabungen in der Kindheit zu erkennen und zu fördern, ist deswegen eine Änderung der Perspektive notwendig: Fachkräfte, die mit Kindern arbeiten, sollten deren Stärken in den Blick nehmen und vermeintliche Defizite mit Lernangeboten fördern.

Hinweis

Dieser Artikel ist zuerst erscheinen bei Meine Kita –  das didacta Magazin, und zwar in Heft 04/2022.