Blog Begabungsgerechtigkeit

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Begabungsgerechtigkeit wagen. Oder: Wie das Bildungssystem fairer wird

Begabungsgerechtigkeit wagen. Oder: Wie das Bildungssystem fairer wird

Was ist Begabungsgerechtigkeit? Dieser Blogbeitrag versucht eine Definition und geht den Dimensionen von Begabungsgerechtigkeit im Bildungssystem nach – in Bezug auf alle Kinder und Jugendlichen.

Januar 2024

Von: Ingmar Ahl


Begabungsgerechtigkeit? Eine Irritation

Begabungsgerechtigkeit? Was soll denn das jetzt schon wieder sein? Noch eine Gruppe, die dies und das für sich verlangt und das mit unfairer Behandlung, mit aktiver Benachteiligung, eben Ungerechtigkeiten begründet? Und dann auch noch die Hochbegabten? Die sind doch eh’ schon im Vorteil wegen ihrer Begabung! Und solange es noch einen wirklich Benachteiligten gibt, sind die Begabten und Hochbegabten erst einmal noch nicht dran. Und schaut euch doch mal die Förderangebote für Hochbegabte an. Findet man da überhaupt Benachteiligte?

So könnte man sich jedenfalls eine – zugegebenermaßen zugespitzte – Reaktion auf die Forderung nach Begabungsgerechtigkeit vorstellen: die stärkere Berücksichtigung Begabter bzw. die Forderung nach einer Verstärkung von Ansätzen der Begabtenförderung im Bildungssystem. Und so fallen tatsächlich Reaktionen auf den Wunsch nach der verbesserten Förderung hoher und sonstiger Begabungen leider immer noch aus. Was also soll Begabungsgerechtigkeit bedeuten? Wie soll sich Begabtenförderung und begabungsgerechte Bildung rechtfertigen? Wie kann man sie begründen und vor allem dazu motivieren, Begabtenförderung auszuprobieren, eben Begabung zu wagen?

Begabungsgerechtigkeit? Eine Definition

Begabungsgerechtigkeit meint zunächst einmal „dass Menschen unabhängig von den unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen ein Recht darauf haben, entsprechend ihren Potenzialen gefordert und gefördert zu werden, wobei Potenziale und Begabungen breit und dynamisch aufgefasst werden. Werden also Begabungen ganz unterschiedlicher Art unabhängig von der sozialen Herkunft, des Geschlechts, von Gesundheit oder der Ethnizität […] zugetraut und anerkannt, kann dies ein Schritt in Richtung Begabungsgerechtigkeit sein“ 1.

So weit so gut – und absolut anschlussfähig auf den ersten Blick mit allgemeinen Zielstellungen von Bildung, Bildungsplänen und Bildungsangeboten. Bestmögliche individuelle Förderung auf der Grundlage der jeweiligen Begabung – so der Auftrag von Bildung in vielen Bildungsgesetzgebungen und Bildungsplänen. Als Richtschnur dient dabei die Begabung des einzelnen Kindes – aber nicht mehr verstanden als etwas Determiniertes, Naturwüchsiges, oder gar Statisches. Begabung wird hier vielmehr als etwas begriffen, das sich in komplexer Wechselwirkung von Individuum und Umwelt, Voraussetzung und Förderung entwickelt. Begabung bezeichnet damit das (intellektuelle) Fähigkeits- bzw. Leistungspotenzial eines Menschen – das sich unter günstigen Bedingungen bei Individuum und Umwelt in hoher Leistung oder großem Wissen zeigen kann. Begabung meint damit die Möglichkeit zu hoher Leistung, nicht schon die Leistung selbst – so die Summe aller zeitgemäßen Begabungsdefinitionen 2. Sie geht letztlich auf den Pionier der modernen Begabungsförderung und Begabungsforschung William Stern (1871-1938) zurück 3.

Begabungsgerechtigkeit? Ein Auftrag aller Bildung

Eine in diesem Sinne verstandene Begabung kann so zum Dreh- und Angelpunkt aller Bildung erklärt werden. Nach Begabung und Begabten zu suchen, sie zu entfalten und zu entwickeln ist Aufgabe des Einzelnen wie des Systems und kennzeichnet ein gerechtes Bildungssystem. Dabei stehen die Potenziale aller Kinder und Jugendlichen im Mittelpunkt allen Bildungshandelns. Begabungsförderung und Begabtenförderung sind somit nichts eigens zu Begründendes oder Begründbares, sondern bedeuten pädagogisches Handeln an sich. Der erklärte Auftrag im Sinne aller Kinder und Jugendlichen ist genau diese Suche nach den Begabungen und ihre Förderung – unabhängig von Standes-, Klassen- und Schichtenzugehörigkeit, unabhängig von Herkunft und Ethnie.

Und selbst für die Pädagoginnen und Pädagogen, die sich lieber nicht an Normativitäten orientieren möchten, ist begabungsgerechte Förderung und Begabungs- und Begabtenförderung eine ziemlich gute Idee: Bildungsentwicklungen in Kita und Schule beinhalten immer auch Herausforderungen, denen sich alle Beteiligten stellen müssen – jedes Kind muss insoweit rechnen, schreiben und lesen lernen. Doch Bildungsbiografien sind besser gestaltbar, wenn sie auf den individuellen Begabungen aufsetzen und von diesen aus individuelle Entwicklungen gestalten. Das wissen aufmerksame Pädagoginnen und Pädagogen aus ihrem Berufsalltag. Ein Wissen, das etwas neudeutsch als Potenzialorientierung bezeichnet wird. Es ist daher nicht nur plausibel, sondern politisch wie pädagogisch zwingend, „die Begabungspotenziale aller jungen Menschen zu entdecken, freizulegen und optimal zu fördern“ – so Victor Müller-Oppliger 4. Auf den schon von William Stern in der Weimarer Republik identifizierten Konnex eines demokratischen Bildungssystems von Bildungshandeln und Begabtenförderung wird kaum noch verwiesen. Begabtenförderung ist jedoch ein bildungsdemokratischer Grundwert 4.

Begabungsgerechtigkeit? Ein Auftrag zur Suche nach Benachteiligten

Dass in Maßnahmen der Begabtenförderung Kinder und Jugendliche mit sozialen, kulturellen, geschlechtlichen und individuellen Barrieren unterrepräsentiert sind, sie nicht zu Maßnahmen der Begabtenförderung allokiert, ja von Maßnahmen der Begabtenförderung exkludiert werden, macht nachdenklich 45. Die Begabtenförderung ist damit letztlich Spiegel der Ungerechtigkeit des Bildungssystems an sich. Auch in ihr erweist sich die hohe Abhängigkeit von sozialer Herkunft, sozioökonomischem Status, Bildungsaspiration und -kultur und Zugang zu höherer Bildung, ja Bildungserfolg überhaupt 67. Dieser Befund spricht aber noch nicht gegen die Begabtenförderung.

Vielmehr muss Begabung, auch hohe Begabung, auch bei Kindern und Jugendlichen mit Barrieren grundsätzlich unterstellt werden. Sie müssen zielgerichtet gesucht, ihre Benachteiligung ausgleichend gefunden und ihr Potenzial gefördert werden. Begabungsgerechtigkeit fordert dann so verstanden auch immer dazu auf, unfairen Ausschluss oder Behandlung von Minderheiten und Bildungsbenachteiligten in der Begabtenförderung selbst zu reflektieren und zu korrigieren. Begabungen ganz unterschiedlicher Art müssen somit unabhängig von der sozialen Herkunft, dem Geschlecht, Ethnie oder von Gesundheit angenommen, anerkannt und angemessen gefunden und gefördert werden. Auch dies meint selbstverständlich Begabungsgerechtigkeit und zielt auf die mangelnde Gerechtigkeit der Begabtenförderung selbst 5.

Begabungsgerechtigkeit? Ein Auftrag, auch Hochbegabte angemessen zu sehen

Ein faires, auf Begabungen aller vertrauendes Bildungssystem sorgt sich um die gute, bestmögliche Bildung aller Kinder und Jugendlichen. Und es schließt dabei hochbegabte Kinder und Jugendliche nicht nur nicht aus, sondern vielmehr explizit ein. Gerechtigkeit ist nicht teilbar – und die Aufmerksamkeit für mögliche Ungerechtigkeit muss grundsätzlich bei allen Schülerinnen und Schülern vorhanden sein. Auch im Falle Hochbegabter und in der Begabtenförderung.

Und dabei spielt weniger eine Rolle, dass unsere Gesellschaft das Potenzial Hochbegabter ganz gut gebrauchen, oder gar nicht darauf verzichten kann. Allenthalben wird dann auf die Probleme der Zeit: Klimawandel, Digitale Revolution, Globalisierung, Demokratiegefährdung, Entsolidarisierung verwiesen. Doch um die etwaige Performanz Hochbegabter hierzu kann es nicht gehen, wenn es um Gerechtigkeit geht. Sie zielt auf jede Einzelne und jeden Einzelnen und ermöglicht ihnen eine angemessene Teilhabe an einer für sie und ihn bestmöglichen Bildung.

Hochbegabung bezeichnet das überdurchschnittliche kognitive Potenzial eines Menschen, welches sich unter günstigen individuellen Voraussetzungen und Umweltbedingungen in Verbindung mit gezielter Anregung zu herausragenden Leistungen und großem Wissen entwickeln kann. Hochbegabung ist damit nur ein Persönlichkeitsmerkmal von vielen, das den Bildungsgang von Kindern und Jugendlichen bedingen kann. Aber es ist eins mit einer hohen Prospektivität im Hinblick auf Schul- und Lebenserfolg – statistisch gesehen.

Und dennoch gibt es hochbegabte Kinder und Jugendliche, denen es nicht gelingt, ihr hohes intellektuelles Potenzial in Performanz zu übersetzen. Man spricht dabei von „Underachievement“, von sogenannter „Minderleistung“. Ursachen können in mangelnder Motivation, fehlenden Lernstrategien oder auch Unterforderung liegen. Ein Teil des Problems liegt dabei oft im Bildungssystem: Mit Bildungsangeboten, die noch immer an mittleren altersgemäßen Normen orientiert sind, bleiben nicht nur so genannte leistungsschwache Kinder und Jugendliche auf der Strecke, sondern eben auch hochbegabte sowie potenziell leistungsstarke Schülerinnen und Schüler. Dazu kommt: Auch bei bester Leistung kann Unterforderung vorliegen, optimale Förderung unterbleiben und damit eine ungerechte, unfaire Behandlung Hochbegabter gegeben sein.

Begabungsgerechtigkeit und Begabtenförderung zielt also auf alle Kinder und Jugendlichen ab, auf Kinder und Jugendliche mit Barrieren, sie zielt auf Hochbegabte – gerade an diesen darf sie auf keinen Fall scheitern. Das Bildungssystem muss daher mehr Begabung, auch Hochbegabung wagen!


Was bedeuten Gerechtigkeit und Fairness eigentlich im Kontext von Begabungsentfaltung und Bildung? Warum spielen sie in der Unterstützung begabter Kinder und Jugendlicher eine wichtige Rolle? Wer wird in der Begabtenförderung oft übersehen? Und was können Kitas, Schulen und Beratungsstellen tun, um das zu ändern? Wie können Hochbegabte im Bildungssystem angemessen vorkommen? Zu diesen und weiteren Fragen liefern die Autorinnen und Autoren dieses Blogs über das Jahr 2024 hinweg spannende Überlegungen aus Wissenschaft und Praxis.

Gehen Sie mit uns in diesem Blog der Karg-Stiftung 2024 auf die Suche nach der Idee der Begabungsgerechtigkeit, gerechter Förderung Hochbegabter und ihren Dimensionen. Wir freuen uns auf den gemeinsamen Weg.

Was sagen Kinder dazu?

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Ich finde es gerecht, dass in Deutschland alle Kinder zur Schule gehen. Wenn ich allein zu Hause lerne, fühlt es sich für mich so an, als müsste ich als Einziger in der Klasse eine Aufgabe bearbeiten.

Johannes, 10 Jahre
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