Hochbegabte unterstützen

Kita

Frühe Begabungs- und Begabtenförderung in der Montessori-Pädagogik

Maria Montessori, eine der weltweit bedeutendsten Reformpädagoginnen, hat mit ihrer Vorstellung von Kindern als eigenständigen Persönlichkeiten viele pädagogische Einrichtungen von der Krippe bis zur Grundschule geprägt. Bekannt wurde sie durch den Satz „Hilf mir, es selbst zu tun“.

Von: Nadine Seddig und Tahereh Yarmohammadi Pour


Bild: istock/LightFieldStudios

Die Montessori-Pädagogik

Im Mittelpunkt der Montessori-Pädagogik 1 steht immer das Kind, mit seinen individuellen Voraussetzungen und Lebensgeschichten. Die Umgebung in den Montessori-Kinderhäusern (so werden die Kindertageseinrichtungen für Kinder von drei bis sechs Jahren bei Montessori genannt) ist auf ihre Bedürfnisse hin abgestimmt und vorbereitet. Für jede Phase der Entwicklung gibt es eigene Montessori-Materialien. Forschen, Lernen und Motivation stehen im Vordergrund, wenn Kinder ihre Welt entdecken – Herausforderungen zu meistern ist dabei ebenso wichtig, wie Fehler zu machen. Demokratie und das Gestalten von Gemeinschaft auf Augenhöhe haben einen besonderen Stellenwert.

Die Montessori-Pädagogik genießt zuweilen den Ruf, dass Kinder nur das lernen, was sie gerne mögen, da das Prinzip der freien Wahl der Arbeitsmaterialien gilt. Doch was es damit ganz genau auf sich hat und wie genau Montessori-Pädagogik in Einrichtungen der frühen Kindheit – den Montessori-Kinderhäusern aussieht, darüber haben wir mit Sylvia Mayer-Egerer gesprochen.

Sylvia Mayer-Egerer ist Montessori-Therapeutin in eigener Praxis und Leiterin einer Montessori-Grundschule, sowie Montessori-Beauftragte der Anna-Schmidt-Schule, Frankfurt am Main. Das Interview führten Dr. Nadine Seddig und Tahereh Yarmohammadi Pour.

Inwieweit ist Montessori-Pädagogik begabungsförderlich?

Die Montessori-Pädagogik ist in jedem Fall begabungsförderlich, weil sie alle Entwicklungsbereiche des Kindes fördert. Das heißt im motorischen, im kognitiven, im sprachlichen und im sozialen Bereich werden alle Sinne angesprochen. Die Aufgabe der Erzieher:innen ist es, das Kind genauestens zu beobachten. Das ist das Allerwichtigste, damit man die sensiblen Phasen jedes Kindes genau erkennt und dann dementsprechend individuell fördern kann.

Wie beobachten die Erzieher:innen in der Kita Kinder nach Montessori?

Die Beobachtung ist ein großes Thema in der Montessori-Pädagogik. Die Erzieher:innen, die das Montessori-Diplom erwerben, werden dahingehend ausgebildet, dass die Beobachtung eine ganz große Rolle spielt. Sie nehmen sozusagen auch „Leistungskurven“ und Entwicklungskurven in ihren Beobachtungen wahr und können sich daran auch wirklich orientieren. Das müssen sie im Grunde machen, sich immer wieder Zeit dafür nehmen. Deswegen ist es auch so wichtig, dass Kindergärten und/oder Kinderhäuser auch gut personell besetzt sind, sodass diese Zeit da ist. Und die Beobachtung ist wirklich das Wichtigste, denn das Kind zeigt uns ganz deutlich, was es gerade braucht, was es benötigt und was wir ihm geben müssen, und das können wir eben nur feststellen, wenn wir das Kind gut beobachten.

Welche Bedeutung hat denn diese Beobachtung für die Förderung, die sich ja wahrscheinlich daran anschließt?

Maria Montessori hat ja sehr früh erkannt, dass jedes Kind bestimmte Entwicklungsphasen hat, die sie „sensible Phasen“ genannt hat. Von null bis drei Jahren ist die erste Phase, die für Ordnung, Bewegung und Sprache zuständig ist. Die zweite Phase ist von drei bis sechs Jahren, da geht es um die Ich-Findung des Kindes. In dieser Phase spielen das Lesen, das Schreiben und das Zählen eine große Rolle. Das ist der Zeitraum, in dem Kinder „Warum-Fragen“ stellen. Sie wollen alles erkunden und erfahren, wodurch sich auch der Wortschatz erweitert. Damit einhergehend werden auch zum ersten Mal Kontakte außerhalb der Familie gesucht. Die dritte Phase ist dann von sechs bis zwölf Jahren, also das Grundschulalter. Da entwickelt sich das moralische Bewusstsein sowie das abstrakte Denken. Schließlich folgt die vierte Phase, von zwölf bis achtzehn Jahren, da interessieren sie sich für Wissenschaft, Politik, die Gesellschaft. Da bilden sich auch die Peer-Groups, also Freundesgruppen, die die wichtigsten Ansprechpartner sind.

In dieser Phase, wo die Kinder im Kinderhaus sind, lernen sie das Schreiben, Lesen und Zählen. Und wenn ich das Kind genau beobachte, weiß ich genau, wann das Kind in diese Phase kommt und wie ich das erkenne. Übrigens haben die neuesten Hirnforschungsergebnisse jetzt auch bestätigt, was Maria Montessori vor hundert Jahren gesagt hat, nämlich dass diese sensiblen Phasen in der Tat da sind, die werden jetzt „Zeitfenster“ genannt. Wenn ich das erkenne, dann hat das Kind alle Möglichkeiten. Das heißt, es kann spielerisch alles aufsaugen wie ein Schwamm, ohne sich anstrengen zu müssen. Montessori hat das den „absorbierenden Geist“ genannt. Daher fällt den Kindern in dieser Zeit das Schreiben, Rechnen, Lesen sowie Sprachen lernen am leichtesten.

Wie reagiert die Montessori-Pädagogik, wenn sich Kinder im Kinderhaus bereits das Lesen und Schreiben beibringen?

Das wird sogar gefördert. Gefördert und gefordert.

Welche Rolle spielt das Montessori-Material bei der Förderung im Kinderhaus? Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Das Montessori-Material ist in meinen Augen immer als Handwerkszeug zu sehen. Das Wichtigste für mich an der Montessori-Pädagogik ist die Haltung dem Kind gegenüber. Das ist wirklich das A und O und das Material ist das Handwerkszeug dafür. Beispielsweise was das mathematische Gedächtnis angeht, lernen die Kinder ja schon vor dem Kinderhaus das Zählen. Die Montessori-Materialien beruhen alle auf dem Dezimalsystem bis zehn, so können die Kinder das Material zählen. Ebenso werden die Sinne durch das Material besonders angesprochen, also jedes Material ist auch zum Anfassen, zum Hören, zum Schmecken, zum Riechen.

Die Materialien haben also einen hohen Stellenwert. Sie tragen dazu bei, dass das Kind von dem konkreten Denken, also dem Anfassen und Spüren können sowie dem Greifen und Begreifen können, zum abstrakten Denken gelangen, was dann für die Schulzeit wichtig ist.

Was gibt es für Materialien?

Ursprünglich hat Montessori, die Ärztin war, Materialien für Kinder mit besonderen Bedürfnissen entwickelt. Danach stellte sie fest, dass auch die anderen Kinder mit den Materialien große Lernerfolge erbringen, und sie entwickelte weitere Materialien. Sehr viel Zeit investierte sie dabei in mathematische Materialien. Beispielsweise können Kinder anhand des Perlenmaterials von klein auf das Zählen lernen. Darüber hinaus können sie sich durch das breit gefächerte Material die Grundrechenarten (Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division) beibringen. Die mathematischen Materialien steigern sich in ihrem Schwierigkeitsgrad und folgen so einem roten Faden, was mich schon während meiner Ausbildung fasziniert hat.

Auch was das sprachliche Material angeht, fängt es bereits Kinderhaus sehr klein an. Die Kinder lernen, Sandpapier-Buchstaben erst mit den Fingern zu erfühlen, dann werden die metallenen Einsätze eingebracht und im nächsten Schritt schreiben sie sie aus dem Handgelenk mit dem Stift auf ein Blatt. Dies kann als Vorbereitung für eine fließende Schrift angesehen werden. Deswegen wird im Kinderhaus auch Wert daraufgelegt, dass zuerst die Schreibschrift gelernt wird, anstatt der Druckschrift.

Wenn ich jetzt in ein Kinderhaus komme, was fällt mir da als Erstes auf, wenn ich die Montessori-Pädagogik nicht kenne?

Ich glaube, als erstes fällt Ihnen die Ruhe auf, die Stille. Auch ein ganz großes Thema in der Montessori-Pädagogik ist die Stille. Es ist einfach wahnsinnig leise, weil die kleinsten Kinder schon lernen, wie sie eine Tür leise schließen oder einen Stuhl tragen, ohne ihn auf dem Boden zu schleifen.

Und das zweite, dass Ihnen vermutlich auffallen würde, ist die vorbereitete Umgebung. Die Aufgabe des Erwachsenen ist es nämlich, dem Kind eine vorbereitete Umgebung zu schaffen. In der ersten Phase beinhaltet dies die Herstellung einer äußeren Ordnung, um zur inneren Ordnung zu gelangen. Das ist wichtig, damit bei Kindern ein klares und geordnetes Denken entsteht, wenn es beispielsweise um die Arbeit mit dem Material geht. Die Erwachsenen sorgen dafür, dass die Kinder das Material einen Tag später an derselben Stelle vorfinden können. Zudem ist das Material farblich und je nach Bereich geordnet: Mathematik-Bereich, sprachlicher Bereich sind das Material für die Übungen des praktischen Lebens.

Ebenso sollte die Haltung von Erzieher:innen dem Kind gegenüber auffallen.

Können Sie die nochmal genauer erklären? Die Haltung von Erziehern dem Kind gegenüber?

Die Erzieher:innen sollten prinzipiell immer eine gewisse Achtung dem Kind gegenüber haben. Sie gehen auf die Knie, wenn sie mit dem Kind sprechen, also auf Augenhöhe und nicht von oben herab. Sie behandeln es ebenbürtig. Das heißt nicht, dass es keinen Unterschied gibt zwischen Kindern und Erwachsenen, sondern, dass die Beziehung auf gegenseitiger Achtung und gegenseitigem Respekt aufbaut.

Erzieher:innen haben auch immer eine Vorbildfunktion und gehen mit gutem Beispiel voran. Sie sprechen also auch leise und schließen die Türen leise.

Was ist denn Ihre Haltung gegenüber der Kritik, dass sich Kinder in Montessori-Einrichtungen nur mit dem beschäftigen, was sie möchten? An dem Punkt wird die Montessori-Pädagogik ja oft mit einer Spiritualität in Verbindung gesetzt.

Ja, das sehe ich natürlich komplett anders, sonst wäre ich da nicht so verhaftet geblieben. Der Name Montessori ist natürlich nicht geschützt. Das heißt, da wo Montessori draufsteht, muss nicht unbedingt Montessori drin sein. Sowas steht und fällt natürlich mit den Pädagog:innen, die in den Einrichtungen arbeiten und ob sie die Pädagogik verinnerlicht haben.

Ich sage auch immer bei Bewerbungsgesprächen, dass mir das Diplom erstmal nicht so wichtig ist. Ich muss das Leuchten in den Augen sehen und spüren, dass sie im Herzen Montessori-Pädagog:innen sind. Diese erlebe ich oft als sehr engagiert. Das sind Menschen, die ihren Beruf als Berufung sehen, also sich beispielsweise viel fortbilden und nahe am Kind sind.

Und wenn man jetzt tatsächlich merken würde, man hat ein Kind, was unglaublich wissbegierig ist und durch die Beobachtungen, die man gemacht hat, könnte es gegebenenfalls eine Hochbegabung haben, also ist es dann möglich, dass dieses Kind sich in seinem Entwicklungsstand seinen Wissensdurst, der vielleicht mit Gleichaltrigen ganz doll auseinandergeht, dem dann nachzugehen? Und was wäre, wenn die Montessori-Materialien, die ja an gewisse Phasen angepasst sind, dafür nicht mehr ausreichen würden?

Auf jeden Fall würde ich das unterstreichen. Und die Materialien gehen ja im Kinderhaus bis zum Grundschulalter und man kann immer auch Materialien, wenn man jetzt wirklich ein Kind hätte, was in einem Wahnsinnstempo diese Materialien durchmacht, aus der Schule ins Kinderhaus holen. Also das ist überhaupt kein Thema.

Also, was wir ja auch ganz oft hören, ist, dass Eltern vor allem sagen, das Kind langweilt sich so, das sollte jetzt früher eingeschult werden. Das wird in einem Montessori-Kinderhaus, das gut geführt ist, nicht passieren. Das kann nicht passieren, weil die Materialien vorhanden sind bis zum Grundschulalter und wie gesagt auch noch darüber hinaus. Gut beobachtende Erzieher:innen erkennen, was das Kind für seine weitere (kognitive) Entwicklung braucht.

Gibt es denn Voraussetzungen, die Kinder mitbringen sollten, damit sie von sich heraus ihre Begabungen entfalten können? Gibt es Voraussetzungen, die das häusliche Umfeld des Kindes, die Eltern, betreffen?

Also ich glaube, dass es jedem Kind guttun würde, wenn es in einer Montessori-Einrichtung wäre. Es würde optimal gefördert und gefordert werden.

Es ist wichtig, dass die Eltern hinter dieser Montessori-Pädagogik stehen, dass sie sich damit auseinandergesetzt haben, sich damit beschäftigt haben und das Vertrauen in das Kind einfach mitbringen. Das ist das erste und auch Vertrauen in die Erzieher:innen natürlich.

Jedes Kind hat das menschliche Bedürfnis, die Welt zu erforschen, ja, also jedes Kind trägt diese intrinsische Motivation in sich. Eltern sollten ihren Kindern beispielsweise nicht zu viele Termine setzen, denn jedes Kind bringt schon mit, was es braucht, wie Lernmotivation und Neugierde. Ich finde, Eltern sollten Kinder auch mal Kinder sein und draußen in der Natur spielen lassen. Kinder dürfen sich auch gern mal langweilen, das fördert in vielen Fällen die Kreativität.

Ebenso ist es wichtig, dass Kinder in selbstgesteuerte Lernprozesse kommen. Sie müssen sich selbst motivieren können, also das haben wir ja jetzt auch beim Home-Office erlebt. Zudem ist Konzentration wichtig, um mit dem Material ausdauernd arbeiten zu können.

Ich glaube, dass das auch für unsere Berufswelt eine der wichtigsten Grundlagen ist, die wir mitbringen müssen. Auch Teamfähigkeit gehört dazu, die in Montessori-Einrichtungen auch stark gefördert wird.

Inwiefern denken Sie, ist die Montessori-Pädagogik dafür geeignet, dass auch Kinder aus sozial schwachen Familien gefördert werden?

Ich bin überzeugt, dass die Montessori-Pädagogik auch für Kinder aus sozial schwachen Familien, Kinder mit Migrationsgeschichte oder jetzt für geflüchtete, ukrainische Kinder geeignet ist. Sie würden in dieser Umgebung viel, viel schneller Deutsch lernen und sich viel besser integrieren. Es wäre nicht mehr dieses abgesondert sein, sondern es wäre wirklich inklusiv. Somit sind natürlich auch Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf angesprochen. Es ist auch ein wichtiger Beitrag für unsere Gesellschaft, dass solche Menschen nicht ausgegrenzt werden, sondern dass man eben mit ihnen groß wird und dann wäre das für alle völlig normal. Dies gilt für jedes Kind, mit seinen Stärken und Schwächen.

Gibt es noch irgendwas für die Begabungsförderung, was aus Ihrer Sicht wichtig ist?

Ich denke, wir haben alles Wichtige angesprochen. Was besonders wichtig ist, ist die Beobachtung und dadurch zu erkennen, wann welches Kind für was bereit ist und es darin intensiv zu fördern.