Hochbegabte unterstützen

Kita

Mit allen Sinnen die Welt erforschen – über Achtsamkeit im Kita-Alltag

Achtsamkeit ist die Fähigkeit, gegenwärtige Gedanken, Gefühle und Empfindungen des Körpers wahrzunehmen, ohne sie zu bewerten oder zu verurteilen 1. Achtsamkeitsübungen können für Kinder mit hohen (kognitiven) Begabungen bzw. für hochbegabte Kinder besonders unterstützend sein, wenn ihnen Probleme und Fragestellungen immer wieder durch den Kopf gehen 2: Wenn sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsstruktur zu ungesundem Perfektionismus und damit hohen Erwartungen an sich selbst neigen, haben sie in der Folge häufig eine geringere Fehlertoleranz 3.

Von: Lisa Pohlmeier und Gesa Hartenbach


Warum gerade (hoch-)begabte Kinder von Achtsamkeitsübungen profitieren können

Achtsames Wahrnehmen kann bereits in der frühen Kindheit trainiert und gefördert werden: Die Umwelt, Geräusche, Geschmack, den eigenen Körper oder Gefühle können mit verschiedenen Sinnen erforscht werden, ohne das Wahrgenommene zu beurteilen. Wie kann dazu bereits in der Kita angeregt werden? Wozu und warum kann das gut sein? Und inwiefern können Kinder – auch (kognitiv hoch-)begabte Kinder – von Achtsamkeitsübungen profitieren?

Bild: iStock/ferrantraite

Hohe Begabung – hohe Komplexität

Wo viele Kinder schlichtweg einen Baum sehen, kann sich ein hochbegabtes Kind möglicherweise gleich ein komplexes Ökosystem vorstellen. Angefangen beim Grundwasser, über das Wurzelsystem, den Stamm mit allem, was dazugehört: Die Zweige und Blätter, die Prozesse der Photosynthese mithilfe der Sonnenstrahlung bis hin zu den Auswirkungen auf die gesamte Umwelt. Doch wie war das noch einmal genau mit den Chloroplasten und dem Kohlenstoffdioxid? Ungeklärte Fragen wie diese, auf die auch Erwachsene nicht immer passende Antworten parat haben, können bei Kindern mit hohen (kognitiven) Begabungen oder (hoch)begabten Kindern Stress auslösen, wenn sie nicht unmittelbar die richtige Antwort wissen oder finden.

In solchen Situationen können Achtsamkeitsübungen Kinder dabei unterstützen, ihre komplexen Denkprozesse zu unterbrechen. Achtsamkeit kann helfen, Stress zu reduzieren, etwaige bestehende Ängste zu verringern und die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu richten.

Über das Üben „in sich hineinzuhören“

ZitatZitat

Mindfulness means paying attention in a particular way: on purpose, in the present moment, and nonjudgmentally 4.

Jon Kabat-Zinn
ZitatZitat

Jon Kabat-Zinn ist führender Experte auf dem Gebiet der Achtsamkeit und Begründer der „Mindfulness-Based Stress Reduction“ (MBSR). Er sieht Achtsamkeit als eine Möglichkeit, in Kontakt mit dem inneren Potenzial zu kommen 5. Damit meint er, dass jeder Mensch in seinem Inneren über ein großes Potenzial verfügt. Oft ist dieses Potenzial den Menschen unbewusst und es muss erst aktiviert werden, bevor es seine Wirkung entfaltet. Kabat-Zinn sagt: „Wir sind schon weise, wir sind schon mitfühlend. Was wir lernen müssen ist, uns selbst nicht im Weg zu stehen, sondern unsere innere Schönheit, unser gesamtes Potenzial freizulegen und zum Strahlen zu bringen – zum Wohle des Ganzen“ 6.

Ein wichtiger Bestandteil der Achtsamkeitsübungen liegt in der Aktivierung der eigenen Ressourcen. Sie können helfen, die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick zu lenken 7. „Dies bedeutet vor allem das konzentrierte und bewusste Wahrnehmen von spezifischen Bewegungen des Körpers bei gleichzeitigem, sinnlichem Erspüren von Vorgängen im Körperinneren während der Bewegungsausführung“ 7. Verschiedene Techniken, wie beispielsweise Atemübungen oder der sogenannte „Bodyscan“ können dabei helfen, empfundenen Stress zu reduzieren 5. Kabat-Zinn vergleicht Achtsamkeit mit einem „Gehirn-Muskel“, der entsprechend trainiert werden kann 8.

Wenn (hoch-)begabte Kinder (wie natürlich alle anderen Kinder auch), ihren eigenen Körper durch Achtsamkeitsübungen bewusst(er) wahrzunehmen trainieren,

  • kann dies zu einem behutsameren Umgang mit sich selbst und den eigenen Gefühlen führen,
  • kann dies zu einem rücksichtsvolleren Umgang mit dem Gegenüber führen und die Fähigkeit zur Empathie fördern,
  • können sie ihre jeweiligen besonderen Kompetenzen entdecken und das Selbstbewusstsein stärken, zu diesen zu stehen,
  • können sie ihre eigenen Leistungsgrenzen wahrnehmen und das Vertrauen in die eigenen Ressourcen und Fähigkeiten gefestigt werden 9,
  • können sie ein höheres Verständnis für die eigenen Bedürfnisse entwickeln.

Voraussetzung für das Training der Achtsamkeit sind Vertrauen und Offenheit zwischen allen Beteiligten in der Kita – sowohl zwischen den Fachkräften und den Kindern als auch untereinander. Eine wertschätzende, wohlwollende und ermutigende Haltung der Fachkräfte gegenüber den Kindern ist hierbei wesentlich. Diese Kultur sollte den Kindern eine emotionale Beteiligung ermöglichen, damit sie neue Fähigkeiten entwickeln können 10. Dazu gehört auch, über Wahrgenommenes zu sprechen und sich auszutauschen – auch über negative Erfahrungen und Empfindungen, die zu spüren oder wahrzunehmen sind. Die Besonderheit des Achtsamkeitstrainings besteht darin, diese möglichen negativen Wahrnehmungen nicht zu bewerten. Dafür ist ein offenes Klima unabdingbar 8.

Fazit

Von Achtsamkeitsübungen können alle Kinder profitieren. Doch gerade, wenn (hoch-)begabte Kinder aufgrund eines ungesunden Perfektionismus dazu neigen, verstärkt Stress, Ängste oder Sorgen zu empfinden, können Achtsamkeitsübungen ein Hilfsmittel sein, um beispielsweise Gedankenketten zu durchbrechen 9. Indem sie die Fähigkeit fördern, die eigenen Gefühle und Emotionen neutral zu betrachten und zu bewerten, eröffnet sich die Chance, sich selbst und anderen gegenüber toleranter und empathischer zu sein 9.

Was sagt die Praxis – Interview mit Franziska Weinzierl aus der Hans-Georg Karg Kita

Auch wenn die Forschung hinsichtlich der Wirksamkeit von Achtsamkeitsübungen noch am Anfang steht, gibt es bereits erste Kitas, die damit Erfahrungen gesammelt haben. Hierzu gehört unsere Interviewpartnerin Franziska Weinzierl, staatlich anerkannte Erzieherin und Kindheitspädagogin (B.A.). Seit September 2020 ist sie in der Hans-Georg Karg Kindertagesstätte, Haus für frühe Bildung und Begabung in Nürnberg tätig. Schwerpunkt der Kita ist die Förderung von Kindern mit hohen (kognitiven) Begabungen. Warum das Thema Achtsamkeitsförderung in der Hans-Georg Karg Kindertagesstätte einen besonderen Stellenwert einnimmt, erzählt sie im nachfolgenden Interview.

Warum beschäftigt ihr euch in der Kita so intensiv mit dem Thema Achtsamkeit?

Wir leben in einer immer schnelllebigeren Welt. Deswegen werden jeden Tag auch schon an Kinder hohe Erwartungen gestellt, sei es von den Eltern, Fachkräften in der Kita oder später von den Lehrkräften in der Schule.

Dabei sind junge Kinder im Grunde bereits achtsam. Sie erkennen im Alltag, auf Spaziergängen oder zu Hause die kleinsten Details, die Erwachsenen häufig nicht mehr bewusst auffallen. Kinder entdecken beispielsweise einen kleine Krabbelkäfer und sind dann ganz fokussiert in diesem Moment. Sie können sich minutenlang mit diesem Käfer beschäftigen, ihn beobachten und dabei alles drum herum vergessen. Sie sind achtsam und völlig im Hier und Jetzt. Leider geht diese besondere Kompetenz im Laufe der Zeit, zum Beispiel durch Leistungserwartungen, verloren. Genau aus diesem Grund wollen wir die Kinder darin unterstützen, diese natürliche Fähigkeit zur Achtsamkeit beizubehalten, damit sie auch im späteren Leben davon profitieren können. Dazu möchten wir den Kindern bereits im Kindergarten Werkzeuge mit auf den Weg geben, mit denen sie in einem bewussten, kurzen Moment im Alltag innehalten und ausbrechen können. Dabei stehen vor allen eine gute Selbstwahrnehmung und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und die eigene Intuition im Vordergrund.

Inwiefern profitieren Kinder mit hohen (kognitiven) Begabungen von Achtsamkeitsübungen?

Gerade Kinder mit hohen (kognitiven) Begabungen versuchen ununterbrochen, sich Zusammenhänge zu erklären, logische Schlussfolgerungen auf ihre Fragen zu finden und permanent neues Wissen aufzusaugen. Deswegen kann es hilfreich sein, durch Achtsamkeitsförderung Methoden kennenzulernen, die sie dabei unterstützen, ganz bewusst abzuschalten und ihrem Gedankenkarussell zu entfliehen. Die Achtsamkeitsübungen bieten die Möglichkeit, in jeder Situation sich selbst und die eigenen Gedanken, Empfindungen und Wahrnehmungen zu reflektieren.

Wie setzt ihr die Achtsamkeitsförderung konkret im Alltag um?

Wir führen in unserem Kita-Alltag immer wieder kleine Übungen zur Förderung der Achtsamkeit durch. Wenn Kinder unruhig oder unaufmerksam sind, kann eine kurze Atemübung, wie dreimal tief ein- und ausatmen oder eine sogenannte Geräuschübung (kurz die Augen zu schließen und umliegende Geräusche bewusst wahrnehmen) helfen, dass die Kinder zur Ruhe finden. Genau solche Übungen können die Kinder auch außerhalb des Kindesgartens anwenden. Mittlerweile haben wir ein kleines Repertoire an Achtsamkeitsübungen, auf die wir Fachkräfte und die Kinder jederzeit zugreifen können.

Die Übungen erarbeiten wir in der Regel mit den Kindern gemeinsam. Jede Gruppe findet aber gegebenenfalls eine individuelle Umsetzung. Diese Übungen werden bei uns regelmäßig im Morgen- oder Abschlusskreis durchgeführt. Aber auch während des Frühstücks oder Mittagessens üben wir die bewusste Wahrnehmung von Lebensmitteln und das bewusste Essen. Auch bei Spaziergängen oder in Turnstunden bauen wir beispielsweise Yogaübungen ein.

Dazu haben wir mit den Kindern den „Bodyscan“ gemacht. Grundlage dazu lieferte die gleichnamige Achtsamkeitsübung des Achtsamkeitsexperten Jon Kabat-Zinn. Für die Durchführung mit den Kindern wurde diese entsprechend angepasst. Beim Bodyscan werden mehrere Wochen von den Kindern unterschiedliche Körperteile intensiv „unter die Lupe“ genommen und bewusst wahrgenommen. Wie fühlt es sich zum Beispiel an, den kleinen Zeh anzufassen oder mit der Hand eine glatte oder raue Fläche zu berühren? Unabhängig von diesen Übungen, die wir in den Alltag integrieren, haben wir in jeder Gruppe auch noch sogenannte Achtsamkeitsboxen, die für die Kinder jederzeit frei zugänglich sind.

Erzähl’ uns gerne mehr über diese Achtsamkeitsboxen. Was befindet sich darin?

Ein Prototyp der Achtsamkeitsboxen wurde im Rahmen einer Bachelorarbeit von zwei Studierenden der Hochschule München erarbeitet. In der Kita nutzen wir diese nach einer persönlichen Einführung der Absolvent:innen. Seitdem sind die Achtsamkeitsboxen fester Bestandteil unseres Alltags geworden. In ihnen befindet sich ein Würfel, auf dem auf allen sechs Seiten Bilder abgedruckt sind. Die Bilder symbolisieren die Achtsamkeitsübungen, die wir mit den Kindern durchgeführt haben. Auch in einem kleinen Samtsäckchen sammeln wir kleine Bildkarten, auf deren Rückseite passende Erklärungen für die Durchführung zu finden sind.

Die Abbildungen sind kindgerecht und so anschaulich gestaltet, dass die Kinder die Übungen auch eigenständig durchführen oder wiederholen können, wann immer ihnen danach ist. Ein kleines beiliegendes Heft erklärt die Übungen für diejenigen Kolleg:innen, die gerne noch einmal nachlesen wollen, falls die Kinder Detailfragen zur Durchführung haben. In der Box sammeln wir zudem weitere Gegenstände, die in Verbindung mit den Übungen im Alltag stehen oder die die Kinder in der Durchführung anleiten. Das kann verschiedenes sein, zum Beispiel ist jeder Box ein Stofftier als Begleiter für die Kinder beigelegt.

Die Achtsamkeitsbox wird in unserer Kita in den unterschiedlichen Gruppen individuell eingesetzt. Eine Gruppe hat die Box beispielsweise immer für die Kinder zugänglich im Gruppenraum und jedes Mal, wenn eine weitere Übung mit den Kindern angewandt wurde, wird sie in die Box aufgenommen. Wenn die Kinder möchten, haben sie jederzeit die Möglichkeit darin zu stöbern, eine Übung vorzuschlagen, zu wiederholen oder eine neue durchzuführen.

Haben die Achtsamkeitsübungen euren Alltag in der Kita verändert?

Unserem Eindruck nach hat sich die Empathiefähigkeit der Kinder untereinander verstärkt. Allgemein verbringen wir unsere Kita-Tage bewusster. Wir Fachkräfte reflektieren unser Verhalten den Kindern gegenüber immer wieder und haben eine achtsamere Haltung zu ihnen entwickelt. Dabei geht es darum, die Kinder in ihren Tätigkeiten nicht vorschnell zu unterbrechen, sondern sie im Wahrnehmen und Innehalten zu unterstützen und Situationen mehr „laufen zu lassen“. Zudem achten wir verstärkt auf die strukturellen Rahmenbedingungen im Alltag und hinterfragen, ob diese wirklich notwendig oder ob sie vielleicht veränderbar sind. Manchmal reicht es aus, den Kindern noch ein paar Minuten mehr Zeit zu geben, ihr Spiel zu beenden, anstatt alles sofort abzubrechen und gegebenenfalls auch gleich noch aufräumen zu müssen.

Bei den Kindern haben wir das Gefühl, dass sie sich zunächst an die Achtsamkeitsübungen gewöhnen mussten. Am Anfang waren sie bei vielen Übungen noch ungehalten und haben sich erst durch stete Wiederholungen nach und nach auf die Übungen eingelassen. Mittlerweile nutzen sie diese „Inseln“ im Alltag gerne. Wichtig finden wir, uns an den Bedürfnissen der Kinder zu orientieren und mit ihnen gemeinsam immer wieder neue Momente der Achtsamkeit zu zelebrieren.