Hochbegabung verstehen

Beratung

Psychologische Hochbegabungsdiagnostik bei sprachlichen und kulturellen Barrieren

Die Frage nach Kulturfairness von psychologischer Diagnostik ist nicht neu. Allerdings gewinnt sie angesichts von Zuwanderung und Flucht in und nach Europa immer mehr an Bedeutung. Warum werden Begabungen von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern aus anderen Ländern stammen oder die wenig Deutsch sprechen, häufig nicht oder erst spät erkannt? Wie lässt sich das ändern?

Von: Sabine Breyel


Bild: iStock/damircudic

Kinder und Jugendliche aus bestimmten Gruppen werden seltener als (hoch-)begabt erkannt und sind seltener in Maßnahmen der Hochbegabtenförderung vertreten. Zu diesen unterrepräsentierten Gruppen zählen vor allem Mädchen, Kinder mit sogenanntem Migrationshintergrund oder Kinder, die mit Barrieren im Bildungszugang konfrontiert sind, wie zum Beispiel der fehlenden Verfügbarkeit von Bildungs- und Betreuungsangeboten. Damit sind einige Kinder (zum Beispiel Mädchen aus einer zugewanderten Familie) sogar doppelt benachteiligt.

„Migrationshintergrund“ – wer oder was ist gemeint?

Laut dem Statistischen Bundesamt hat ein Kind dann einen Migrationshintergrund, wenn es „selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist“ 1. Der Begriff Migrationshintergrund wird allerdings kritisiert, denn er ist oft negativ konnotiert und unkonkret. Häufig wird er im Zusammenhang mit Schwierigkeiten genannt – zum Beispiel mit schlechten Schulleistungen oder Verhaltensauffälligkeiten. So werden schnell stereotype Vorstellungen einer Familie geweckt, in der kein Deutsch gesprochen wird, die Eltern ein geringes Bildungsniveau haben und die Kinder (außerhalb der eigenen Familie) schlecht sozial integriert sind. Die Realität sieht aber oft ganz anders aus.

Noch dazu kommt, dass inzwischen der Anteil an Kindern mit sogenanntem Migrationshintergrund so hoch und die Unterschiede zwischen den Familien derart groß sind, dass die Überkategorie „Migrationshintergrund“ als Beschreibung keinen wirklichen Bedeutungsgehalt mehr hat 2. Denn bei der Begriffsverwendung im Alltag und in den Medien bleibt meist unklar, was eigentlich genau gemeint ist. Geht es darum, welche Sprache in der Familie gesprochen wird, wie die Familie in der deutschen Gesellschaft integriert ist, ob sie Diskriminierung erfährt oder welche Generationen schon in Deutschland geboren worden sind 3?

In diesem Beitrag soll genauer beleuchtet werden, welche Herausforderungen es beim Erkennen und Diagnostizieren von (Hoch-)Begabung geben kann, wenn Deutsch nicht die Erstsprache der Kinder ist und das deutsche Bildungssystem sowie kulturelle Wertvorstellungen für die Kinder und deren Familien noch neu sind.

Herausforderungen beim Erkennen von (Hoch-)Begabung

Sprachliche Barrieren

Gerade junge Kinder sind meist sehr offen und können sich trotz sprachlicher Barrieren gut verständlich machen – vor allem im Kontakt zu Gleichaltrigen. Dennoch können Sprachschwierigkeiten im Wege stehen, wenn es darum geht, enge Kontakte zu knüpfen und sich schnell in deutschsprachige Gruppen zu integrieren. Begabten Kindern mit eingeschränkten Deutschkenntnissen fällt es zudem in Kita und Schule möglicherweise schwer, ihr intellektuelles Potenzial auch auszudrücken. Es entfallen viele Möglichkeiten für Fachkräfte, Begabungen zu erkennen, wenn Kinder sich beispielsweise wegen Sprachbarrieren kaum mündlich am Unterricht beteiligen und auch in Hausaufgaben und Klassenarbeiten ihre Leistung nicht sprachlich ausdrücken können. Was bleibt, sind Verhaltensbeobachtungen, die in der Kita gegebenenfalls noch eine größere Rolle spielen als im Schulalltag.

Stereotype Vorstellungen von Fachkräften

ZitatZitat

Immer noch vermuten viele Erzieher:innen, Pädagog:innen und Lehrkräfte (in der Regel unbewusst) Begabungen vor allem bei solchen Kindern, die ihnen selbst in Bildungshintergrund, Kultur und Sprache ähnlich sind.

ZitatZitat

Stereotype können dazu führen, dass Kinder, die von diesem Bild abweichen, seltener als begabt erkannt werden. Zudem werden Begabungen, die nicht den eigenen kulturellen Werten entsprechen, oft gar nicht als solche wahrgenommen: Es greift quasi ein „kultureller Filter, der alle nicht bekannten Ausdrucksformen herausfiltert.“ 4

Stereotype im Zusammenhang mit anderen Sprachen und Kulturen können so stark ausgeprägt sein, dass von eigentlich begabten Kindern sogar eher unterdurchschnittliche Leistungen erwartet werden. Das kann wiederum negative Auswirkungen auf deren eigene Erwartungen und Überzeugungen haben. Wenn Kinder beispielsweise sehr häufig die Erfahrung machen, dass eine Lehrkraft von einer schlechten Leistung wenig überrascht ist, kann sich das negativ auf ihre Selbstwirksamkeit und ihr (schulisches) Fähigkeitsselbstkonzept auswirken. Sie sind dann weniger überzeugt, dass sie neue Herausforderungen bewältigen können und schätzen ihre eigenen Fähigkeiten als gering ein. Hinzu kommt ein Effekt, der diese Wirkung noch verstärken kann: Wenn Kinder in einer Leistungssituation befürchten, sie könnten die negativen Erwartungen über sich selbst bestätigen, kann die Leistung paradoxerweise tatsächlich beeinträchtigt werden 5. Dieser sogenannte Stereotype-Threat-Effekt kann unter anderem so erklärt werden, dass durch das Nachdenken über die Stereotype und die Befürchtungen kognitive Kapazitäten blockiert werden, die unter anderen Umständen eigentlich für die Bearbeitung einer Aufgabe verfügbar wären.

Faktoren der Herkunftsfamilie und -kultur

Ähnlich wie Fachkräfte haben auch viele Eltern und weitere Bezugspersonen stereotype Vorannahmen darüber, welche Kinder besonders begabt sind. Bei Familien, die aus einem anderen Land nach Deutschland gekommen sind, können das noch einmal ganz andere Annahmen sein als bei deutschen Eltern. Denn in anderen Kulturen werden teilweise andere Fähigkeiten als Begabungen angesehen. Zudem wird in manchen Herkunftsländern vor allem Mädchen oft immer noch der Zugang zu Bildung verwehrt oder nur in geringem Umfang ermöglicht, sodass ihre Begabungen weniger Beachtung finden. Manche Eltern haben darüber hinaus wenig Erfahrung und Berührungspunkte mit dem Themenfeld Begabung(sförderung) – das gilt unabhängig vom Herkunftsland.

Herausforderungen bei der Diagnostik und Lösungsansätze

Wenn die Vermutung einer besonderen Begabung im Raum steht und ein Kind, das wenig oder kein Deutsch spricht, getestet werden soll, treten eine Reihe von Herausforderungen auf. Sind Berater:innen ausführlich über diese Besonderheiten informiert und kennen sie Möglichkeiten damit umzugehen, kann eine kulturoffene Diagnostik gut gelingen.

Kulturfairness von Intelligenztests

Intellektuelle Fähigkeiten (vor allem analytisches Denken und logisches Schlussfolgern), die im Rahmen der Intelligenzdefinition und in der westlichen Kultur eine besondere Rolle spielen, werden möglichweise in anderen Kulturen weniger als Begabung angesehen und auch weniger gefordert. Es kann vorkommen, dass Kinder deshalb nicht so viel Erfahrung mit dieser Art von Aufgaben und der Testsituation als solcher haben. Das kann die Einschätzung der Leistungsfähigkeit verfälschen.

Auf einer übergeordneten Ebene ist deshalb ein wichtiger Lösungsansatz, mehr kulturelle Vielfalt in der (psychologischen) Forschung und in der Entwicklung von Testverfahren zu etablieren. Das kann unter anderem dadurch gelingen, dass zugrundeliegende Konstrukte (zum Beispiel Intelligenz, Begabung) sowie die Testkonstruktion und -normierung nicht nur auf der westlichen Kultur und sogenannten „WEIRD“-Stichproben basieren. Das Akronym beschreibt die Herkunft der typischen Versuchspersonen in der internationalen psychologischen Forschung: „White“, „Educated“, „Industrialized“, „Rich“ und „Democratic“.

Sprachliche Barrieren

Sprache ist bei den meisten Intelligenztests ein wesentlicher Bestandteil. Sprachverständnis oder Sachwissen werden beispielsweise durch Fragen erfasst wie „Was haben RACHE und VERGEBUNG gemeinsam?“ 6 oder „Was wurde von den alten Ägyptern benutzt, in Stein gemeißelt und ist eine Art Schrift?“ 7. Eine gewisse Sprachkompetenz ist jedoch nicht nur nötig, um die sprachlichen Testaufgaben selbst zu lösen, sondern auch, um überhaupt die Testanweisungen zu verstehen.

Wenn ein Kind kaum oder kein Deutsch spricht, wäre eine naheliegende Option, die Testanweisungen zu übersetzen – entweder selbst oder durch einen Dolmetscher.

ZitatZitat

Zu beachten ist jedoch, dass eine Übersetzung nicht unbedingt eine vollumfängliche Testfairness gewährleisten kann, da diese nicht standardisiert ist und auch Sprachnuancen das Verständnis einer Aufgabe verändern können.

ZitatZitat

Da nur wenige Intelligenztestverfahren als wissenschaftlich validierte Übersetzung vorliegen, sollte eher geprüft werden, ob ein sprachfreies Verfahren und/oder ein Test mit Komponenten zur Messung der fluiden Intelligenz geeignet ist.

Sprachfreie Intelligenztests arbeiten mit figurenbetontem Aufgabenmaterial (siehe Abbildung 1) und messen die visuelle Verarbeitungsleistung und -geschwindigkeit und/oder fluide Anteile der Intelligenz, also die Fähigkeit zum Erkennen von Unterschieden, Beziehungen und zum schlussfolgernden Denken. Neben sprachlichen Anweisungen stehen bei solchen Verfahren auch standardisierte sprachfreie Testanweisungen zur Verfügung, sodass die Kommunikation auf die Sprachkenntnisse des Kindes angepasst werden kann. Generell sind die Aufgaben in sprachfreien Verfahren aber so gestaltet, dass die Anforderungen direkt ersichtlich werden. Die getestete Person muss demnach weder selbst sprechen noch die Sprache verstehen.

ZitatZitat

Ein Problem bei einigen sprachfreien Testverfahren ist jedoch, dass diese gerade im hohen und sehr hohen Leistungsbereich nicht gut genug differenzieren.

ZitatZitat

Hier ist es deshalb wichtig, das jeweilige Verfahren speziell auf die Eignung für eine Hochbegabungsdiagnostik zu prüfen und gegebenenfalls weitere Verfahren als Ergänzung heranzuziehen. Hilfreich für die Entscheidung sind übersichtliche Zusammenfassungen vorhandener Tests und eine valide Einschätzung ihrer Einsatzmöglichkeiten, wie sie zum Beispiel in der IQ-Test-Datenbank des Karg Fachportals Hochbegabung zu finden sind.

Abb. 1: Beispiel für eine sprachfreie Aufgabe nach der Art „Reihenfortsetzen“ aus dem CFT-20R: Gesucht ist die Figur aus der unteren Reihe, die die obere Reihe logisch ergänzt. (Die Aufgabe stellt kein Originalmaterial des CFT-20-R dar.) Bild: Weiß, R.H. (2019). CFT 20-R mit WS/ZF-R. Grundintelligenztest Skala 2 – Revision mit Wortschatztest und Zahlenfolgentest – Revision (2. überarb. Aufl. mit aktual. u. erw. Normen). Göttingen: Hogrefe.

Weitere Informationsquellen für die Diagnostik

Oft sprechen Kinder während der Testsituation. Sie erklären zum Beispiel ihre Vorgehensweise oder äußern ihre Gefühle und Gedanken. Diese Äußerungen sollten zwar nicht in die Bewertung der Testaufgaben einfließen, da sonst die Objektivität beeinträchtigt wird, sie können aber wertvolle zusätzliche Informationen für eine ganzheitliche Einschätzung der Begabungen sein. Solche nicht-standardisierten Beobachtungen sind bei geringen Sprachkenntnissen nur eingeschränkt möglich. Jedoch ist die Beobachtung des Verhaltens sehr wertvoll, um diagnostische Informationen zu erhalten – und das ist unabhängig von der Sprachkenntnis des Kindes möglich. Beispielsweise drücken Kinder im Spiel oft ihre Kreativität aus und es lassen sich dabei auch kognitive Fähigkeiten erkennen, etwa wie gut Kinder schon die Perspektive von anderen Personen übernehmen oder Analogien bilden können.

Spricht das Kind ein wenig Deutsch, ist ein diagnostisches Gespräch neben der standardisierten Intelligenzdiagnostik hilfreich, um herauszufinden, welche Stärken und Ressourcen das Kind mitbringt. Eine weitere wichtige Informationsquelle ist die Familie. Um die Begabung des Kindes möglichst vorurteilsfrei und umfassend einzuschätzen, können Gespräche (gegebenenfalls mit Dolmetscher:in) mit den Eltern oder anderen Bezugspersonen hilfreich sein, die den folgenden Fragen auf den Grund gehen:

  • Was bedeutet der Begriff (Hoch-)Begabung für Sie?
  • Welche Einstellungen haben Sie zum Thema (Hoch-)Begabung?
  • Was gibt es für begabungsförderliche oder -hinderliche Faktoren in der Familie und/oder der Herkunftskultur?
  • Welchen Stellenwert hat (intellektuelle) Begabung in der Herkunftskultur?

Nachbesprechung der Diagnostik

Nach der Diagnostik ist eine umfassende Nachbesprechung nötig – ganz besonders dann, wenn Familien bislang wenig Berührungspunkte mit dem Thema (Hoch-)Begabung hatten und/oder Sprachbarrieren vorliegen. Wichtig ist es, die diagnostischen Ergebnisse verständlich zu erklären – bei Bedarf auch gemeinsam mit Dolmetscher:innen. Bildliche Darstellungen oder Grafiken können dabei helfen, Begriffe wie Intelligenzquotient, Normalverteilung und Hochbegabung anschaulich zu machen. Die Nachbesprechung dient auch dazu, den Reaktionen der Eltern und (je nach Alter) der Kinder Raum zu geben. Die Bandbreite an Reaktionen auf die Ergebnisse reicht von Freude und Stolz bis hin zu Enttäuschung und Unverständnis. Gerade wenn Eltern selbst Schwierigkeiten mit der Sprache haben, ist hierbei Geduld und Flexibilität gefragt. Auch die individuellen Einstellungen und die kulturellen Werte, die dahinterstehen, nachzuvollziehen und einzuordnen, erfordert Offenheit und Sensibilität. Berater:innen können die Familien dabei unterstützen, ihre Gedanken und Gefühle mitzuteilen und zu erkunden. Auf dieser Basis kann erarbeitet werden, ob und welche Informationen noch benötigt werden und welche Handlungsoptionen für den individuellen Fall sinnvoll sind.

IQ-Screenings

Mit Screening-Verfahren kann verhindert werden, dass Kinder und Jugendliche wegen der beschriebenen Herausforderungen durchs Raster fallen und gar nicht erst für eine individuelle Diagnostik vorgestellt werden. Bei einem Screening nehmen größere Gruppen von Kindern, zum Beispiel die gesamte Klasse oder auch der gesamte Jahrgang, an einem Testverfahren teil. So können auch die besonders begabten Schüler:innen als solche erkannt werden, ohne dass ein Elternteil oder eine Lehrkraft dies angeregt haben. Wichtig ist, dass nur solche Intelligenztests dafür eingesetzt werden, die laut Testmanual auch als Screening geeignet sind (siehe IQ-Test-Datenbank) beziehungsweise speziell konstruierte Screening-Tests verwendet werden. Liegen massive Sprachbarrieren vor, sollten auch hier eher sprachfreie Verfahren ausgewählt werden.

Qualifizierung von Fachkräften

Eine essenzielle Aufgabe für die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften ist es, kulturelle Vielfalt zu etablieren und eine ressourcenorientierte, offene Haltung gegenüber anderen Sprachen und Kulturen zu fördern. Es gilt, den eigenen „kulturellen Filter“ 8, der ungewohnte oder unbekannte Ausdrucksformen von Begabung herausfiltert, zu erkunden und durchlässiger zu machen. Gefördert werden könnte das dadurch, dass schon in Aus- und Weiterbildung der Reflexion kultureller Einflüsse auf Begabungsbegriffe ein größerer Stellenwert eingeräumt wird und Lehrmaterial kulturelle Vielfalt abbildet.

Zudem sollten Fachkräfte darüber informiert sein, welche Ressourcen mit Mehrsprachigkeit (zum Beispiel sprachliches Metawissen, kognitive Flexibilität) und kultureller Diversität (zum Beispiel Wissensaustausch, Erfahrung mit und Toleranz für andere Kulturen) einhergehen. Das kann dann besonders gut und authentisch gelingen, wenn in einem Team auch Fachkräfte mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen zusammenkommen und sich austauschen können.