Hochbegabung verstehen

Beratung

Underachievement bei hochbegabten Kindern und Jugendlichen

Von Underachievement oder auch Minderleistung wird gesprochen, wenn eine Diskrepanz zwischen dem Leistungspotenzial und der tatsächlich gezeigten Leistung besteht 1. Kann ein nachweislich hochbegabtes Kind sein Potenzial in der Schule nicht abrufen und bleibt hinter den zu erwartenden Leistungen zurück, spricht man von schulischem Underachievement oder Minderleistung.

Von: Wiebke Evers


Was bedeutet Underachievement bei Hochbegabten?

Das Thema Underachievement wird oft im Zuge von Hochbegabung diskutiert. Etwa 9 bis 28% der Hochbegabten zeigen in der Schule eine geringere Leistung, als sie eigentlich erbringen könnten 2. Ähnliche Zahlen gelten allerdings auch für Normalbegabte. Underachievement kann sich bereits im Grundschulalter entwickeln, manifestiert sich häufig aber erst in der weiterführenden Schule. Im Allgemeinen werden mehr Jungen als minderleistend identifiziert als Mädchen. Dies ist wahrscheinlich weniger darauf zurückzuführen, dass es tatsächlich weniger minderleistende Mädchen gibt, sondern eher auf den Umstand, dass Mädchen anders sozialisiert sind und sich in dieser Situation eher anpassen oder auch zurückziehen, während Jungen eher dazu neigen, auffällig zu werden 3.

Es gibt verschiedene Formen von Underachievement. Bei bereichsspezifischem Underachievement ist in einem besonderen Begabungsbereich eine Diskrepanz zwischen Potenzial und Schulleistung zu beobachten, z. B. in sprachlichen Fächern trotz hoher sprachlicher Begabung. Bei bereichsübergreifendem Underachievement fallen die Schulleistungen im Allgemeinen erwartungswidrig mäßig oder gering aus.

Überfordertes Kind
Bild: iStock/no_limit_pictures

Wann wird Underachievement zum Problem?

Underachievement nach der Diskrepanz-Definition muss nicht zwangsläufig ein Problem darstellen 4. Hier ist die Perspektive des/der Minderleistenden entscheidend. Underachievement ist jedoch ein Risikofaktor für die Entwicklung schulischer und persönlicher Probleme. So steht Underachievement oft mit ungünstigen Bildungsverläufen in Zusammenhang, wie Klassenwiederholungen und Schulwechseln bis hin zu Schuleschwänzen und Schulverweigerung 5. Die Auswirkungen von Underachievement können über den schulischen Bereich hinaus reichen. Insbesondere bei starker Ausprägung können damit auch Schwierigkeiten im sozialen Bereich und im psychischen Wohlbefinden einhergehen. Hochbegabte Schüler:innen, die ihr Potenzial in der Schule nicht zeigen, laufen Gefahr, Ängste oder Depressionen oder externalisierende Störungen wie aggressives und herausforderndes Verhalten zu entwickeln. In diesen Fällen wird Underachievement oft nicht nur für den/die Schüler:in selbst, sondern auch für das Umfeld zu einer hohen Belastung.

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Die […] Fokussierung auf Leistung reicht nicht aus, weder zur Identifizierung hochbegabter Underachiever noch für die Planung individueller Förderung.11

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Minderleistende Schüler:innen können im außerschulischen Kontext und auch später im Beruf durchaus erfolgreich sein. Wird schulisches Underachievement jedoch zum Dauerzustand, kann sich dies auch negativ auf den beruflichen Werdegang auswirken und z. B. zu Studienabbrüchen und Jobverlusten führen.

Wie entsteht Underachievement?

Für die Entfaltung von besonderen Begabungen ist nicht nur das individuelle Leistungspotenzial entscheidend, sondern auch verschiedene Variablen auf Ebene des Schülers oder der Schülerin (Personenvariablen), die eigenen Kompetenzen sowie das familiäre und schulische Umfeld.

Personenvariablen

Minderleistende Schüler:innen zeigen oft eine geringere Leistungsmotivation und messen den Unterrichtsinhalten wenig Bedeutung bei 6. Dies spiegelt sich in einer negativen Einstellung gegenüber der Schule und den Lehrkräften wider. Darüber hinaus verfügen sie häufig über ein negativeres akademisches Selbstkonzept als ihre Mitschüler:innen. Sie haben Schwierigkeiten mit dem „Etikett hochbegabt“, empfinden den daran geknüpften Druck als zu hoch oder sehen keinen Mehrwert darin, ihre Begabung in Form von guter Schulleistung zu zeigen. Manche Hochbegabte verfügen über das sogenannte fixed mind-set. Dahinter steckt die Annahme, dass Begabung eine Gabe ist, die man nicht verändern und auf die kein Einfluss genommen werden kann. Wenn sie sich überfordert fühlen oder an Aufgaben scheitern, zweifeln sie direkt an ihrer hohen Begabung.

Kompetenzen

Manche Underachiever haben Schwierigkeiten in der Selbstregulation und verfügen über weniger Lern- und Arbeitsstrategien, die ihnen bei Herausforderungen im Lernen helfen könnten 7. Hochbegabte haben häufig weniger Möglichkeiten, diese Kompetenzen und Strategien zu entwickeln, da sie durch ihre schnelle Auffassungsgabe seltener gefordert sind, ihr Lernen zu planen und zu strukturieren, um sich kompliziertere Sachverhalte anzueignen. Ein Mangel an diesen Kompetenzen wird oft erst im weiteren Bildungsverlauf sichtbar, wenn Lerninhalte herausfordernder werden und selbstorganisiertes Lernen erwartet wird.

Umweltfaktoren

Auch die Umwelt kann die Entwicklung oder Verstetigung von Underachievement bedingen. Im außerschulischen Umfeld werden z. B. belastete und konfliktreiche Beziehungen innerhalb der Familie oder die Abwesenheit von Rollenmodellen und Vorbildern im Verwandten- und Freundeskreis mit Underachievement in Zusammenhang gebracht. Liegt im schulischen Umfeld auf der inhaltlichen Ebene eine Unterforderung in den Lerninhalten vor, kann sich dies negativ auf die Leistungsbereitschaft auswirken. Bietet die Unterrichtsgestaltung außerdem wenig Raum für selbstständiges Arbeiten im eigenen Lerntempo, fällt es Hochbegabten schwer, sich zu motivieren. Stark strukturierter Unterricht birgt außerdem wenig Gelegenheiten, die oben beschriebenen Kompetenzen wie Selbstregulations- und Lernstrategien zu entwickeln. Neben der inhaltlichen Gestaltung des Unterrichts, ist auch die Beziehungsebene zu beachten. So können schwierige Beziehungen zur Lehrkraft sowie auch ein leistungsfeindliches Klassenklima (bis hin zur sozialen Ausgrenzung guter Schüler:innen) mit Underachievement zusammenhängen.

Minderleistung wird selten durch einen einzelnen Faktor bestimmt. Oft stecken mehrere Gründe dahinter, die sich gegenseitig bedingen oder beeinflussen können 1. Dies erfordert eine sorgfältige Diagnostik, die sowohl die einzelnen Faktoren als auch deren Zusammenspiel in Betracht zieht.

Wie kann Underachievement erkannt werden?

Underachievement als Diskrepanz zwischen Begabung und Leistung ist oft nicht leicht zu erkennen. Zum einen ist die Hochbegabung als solche nicht immer erkannt, zum anderen erzielen Minderleistende nicht immer unterdurchschnittliche Noten, die die Aufmerksamkeit von Eltern und Lehrkräften erregen, sondern bewegen sich oft im Mittelfeld. Wie kann man dann ein besonderes Leistungspotenzial erkennen, wenn es keine besonderen Leistungen als Indikator gibt?

Schlechte Noten trotz hoher Begabung

Einige Schüler:innen geben durch ihr Verhalten im Unterricht Hinweise auf eine hohe Begabung, z. B. durch verbale Fähigkeiten, ein hohes Allgemeinwissen, durch eine schnelle Auffassungsgabe bei der Einführung eines neuen Themas oder bei der Lösung von Aufgaben, die über die eingeübte Anwendung von Lerninhalten hinausgehen. Stehen diese Beobachtungen im Kontrast zu den erzielten (vor allem schriftlichen) Schulleistungen, kann dies ein Hinweis auf Underachievement sein.

Erschwertes Erkennen durch Schulwechsel

Bei manchen Schüler:innen gibt eine deutliche Verschlechterung der Noten einen Hinweis auf beginnendes Underachievement. Ein solcher Leistungseinbruch geht oft mit dem Wechsel auf die weiterführende Schule einher, wenn neue Anforderungen gestellt werden, wie die selbstständige Erarbeitung von Lerninhalten oder die Vor- und Nachbereitung des Unterrichts. Anhand solcher Herausforderungen werden Defizite in der Selbstregulation und den Arbeits- und Lernstrategien erstmals sichtbar. Geht der Leistungseinbruch mit einem Schulwechsel einher, wird die Erkennung von Underachievement zusätzlich erschwert. Zum einen wird ein Abfall der Leistung durch das Umfeld zunächst als nichts Ungewöhnliches angesehen, zum anderen kann die neue Lehrkraft den Abfall oft nicht als solchen erkennen, da sie den/die Schüler:in erst neu kennenlernt.

Ungleichgewicht in der Leistung unterschiedlicher Schulfächer

Auch eine ungleiche Leistung in den verschiedenen Schulfächern kann auf Underachievement hinwiesen. In manchen Fällen zeigen die Schüler:innen nur in ihren Interessensfächern überdurchschnittliche Leistungen, während sie sich in anderen im mittleren oder unteren Klassenfeld bewegen. Auch außerhalb der Schule können außergewöhnliche Leistungen gezeigt werden, die auf eine hohe Begabung schließen lassen.

Psychologische Leistungsdiagnostik

In Beratungssettings wird Underachievement selten als der Grund angegeben, mit dem sich Schüler:innen und deren Eltern für einen Termin anmelden. Oft stehen andere Probleme wie Noteneinbrüche, Motivationsschwierigkeiten, Konflikte mit Eltern und in der Schule, Aggressivität oder Schulverweigerung im Vordergrund. Eine psychologische Leistungsdiagnostik kann in diesen Fällen hilfreiche Hinweise auf ein mögliches Underachievement liefern.

Underachievement erkennen zu können, setzt nicht nur Wissen über Hochbegabung, sondern auch über die mit Underachievement in Verbindung stehenden schulischen wie auch persönlichen Probleme voraus. Die Diagnose erfordert neben genauer Beobachtung auch Sensibilität für besondere Gruppen, die gerne als potenziell hochbegabt übersehen werden, wie Mädchen, Schüler:innen mit Migrationshintergrund oder aus sozioökonomisch benachteiligten oder bildungsferneren Umständen. Im Verdachtsfall ist der Austausch unter den Lehrkräften im Kollegium sowie auch mit den Eltern unerlässlich, um die verschiedenen Sichtweisen einzuholen und weitere Schritte einzuleiten. Darüber hinaus ist die Konsultation einer psychologischen Beratung (z. B. der Schulpsychologischen Beratungsstelle) aufgrund der häufig komplexen Problemsituationen im Zusammenhang mit Underachievement ratsam.

Welche Möglichkeiten gibt es, minderleistende Schüler:innen zu unterstützen?

Wird Underachievement an sich zur Belastung oder zur Ursache für andere Probleme, braucht es professionelle Beratung. Unter Einbezug des/der Minderleistenden und ggf. der Familie wird gemeinsam mit dem/der Beratenden überlegt, wie der Situation am besten begegnet werden kann. Durch die verschiedenen Problemkonstellationen, die hinter einer Minderleistung stecken können, muss die individuelle Situation genau betrachtet werden. Denn so individuell wie das Problem ist, so individuell muss auch der Lösungsansatz sein.

Psychologische Beratung

Liegen die Ursachen auf der persönlichen Ebene (z. B. Motivation, Selbstwert und Versagensängste), kann eine psychologische Beratung oder bei entsprechender Symptomatik auch eine Psychotherapie helfen. Sie zielt darauf ab, die Bedingungen, die die Entfaltung der Begabung blockieren, zu verändern, die Entfaltung der Gesamtpersönlichkeit zu ermöglichen sowie ggf. die psychische Gesundheit zu stärken oder wiederherzustellen 8. Gemeinsam mit den Ratsuchenden erörtern Beratende, welche Erwartungen der/die Minderleistende gerne erfüllt und welche nicht, und welche Gründe dahinterstecken. Eine Reflexion der eigenen Ziele und wie diese erreicht werden können, kann Klarheit darüber bringen, wo Handlungsbedarf besteht. Schon diese Feststellung konkreter Handlungsansätze kann zu neuer Motivation und einer gesteigerten Anstrengungsbereitschaft führen. Die eigene Identität und die Identifizierung als hochbegabt kann ein weiterer Ansatzpunkt sein.

Trainings

Sind fehlende Kompetenzen ein Grund für die Minderleistung, können Trainings z. B. zur Verbesserung der Selbstregulation oder zum Erlernen von Lernstrategien helfen 9. So können die Minderleistenden Methoden erlernen, sich Themen zu widmen, die sie weniger interessieren, die mehrfache Wiederholungen oder Auswendiglernen erfordern. Solche Trainings werden z. B. von Beratungsstellen der Schulpsychologie angeboten, aber auch von Schulsozialarbeiter:innen oder Lehrkräften an den Schulen direkt durchgeführt.

Umweltbedingungen

Auch Veränderungen im Umfeld können Minderleistenden helfen. Im familiären Umfeld kann z. B. an der Erwartungshaltung gearbeitet werden (Fehlerkultur, Anerkennung für die Anstrengung und nicht für das Ergebnis). Im schulischen Umfeld sind je nach Problemlage z. B. Maßnahmen wie individuelle Lernvereinbarungen, Teilnahme an Förderprogrammen (z. B. mit dem Drehtürmodell) und Wettbewerben, aber auch Klassen- oder Stufenwechsel denkbar. Die Schulpsychologische Beratungsstelle leistet hier Unterstützung. Zu bedenken ist dabei, dass minderleistende Schüler:innen bei bereits länger andauerndem Underachievement Lernrückstände aufgebaut haben können, sodass die Teilnahme an speziellen Begabtenförderungsprogrammen unter Umständen nicht sofort möglich ist. Für diesen Fall ist es wichtig, motivierende Möglichkeiten und Anreize zu schaffen, wie der Unterrichtsstoff aufgeholt werden kann.

Unabhängig davon, welche Maßnahmen getroffen werden, gilt es, die Stärken des/der Minderleistenden in den Vordergrund zu stellen und diese als Ressourcen für den Veränderungsprozess zu nutzen. Ein interessengeleitetes Vorgehen kann die Motivation und Bereitschaft des/der Betroffenen erhöhen, sich auf den Prozess einzulassen. Dafür ist der Minderleistende in alle Schritte der Intervention – von der Problemanalyse und Planung bis zur Umsetzung und Reflexion – eng miteinzubeziehen 1. Darüber hinaus muss für eine gute Beziehung zum/r Schüler:in bestehen, um offen und konstruktiv zusammenarbeiten zu können. Dabei gibt es für Minderleistung oft keine offensichtliche Lösung, die kurzfristig wirkt. Zunächst gilt es, genau hinzuschauen und sich offen auf die Suche zu begeben, was der Minderleistung zugrunde liegt und sie begünstigt. In der Begleitung von Minderleistenden ist also nicht nur Fachwissen, sondern auch Durchhaltevermögen gefordert 10. Interventionen erzielen im Allgemeinen mehr Veränderung, wenn die Teilnehmenden jünger sind 9. Damit ist die frühe Erkennung und das schnelle Aktivwerden wichtige Voraussetzung für eine erfolgreiche Überwindung von Underachievement, sodass aus einer Phase der Minderleistung kein dauerhafter Zustand wird. Sowohl für die frühe Erkennung als auch in der Intervention braucht es die Zusammenarbeit zwischen dem/der Betroffenen, den Eltern, den Lehrkräften und der/n beratenden Person/en (z. B. den Schulpsycholog:innen, Therapeut:innen, Schulsozialarbeiter:innen).