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Schule

Deeper Learning als begabungs- und begabtenförderliches Modell für einen Unterricht des 21. Jahrhunderts

Deeper Learning versteht sich als eine Antwort auf die Frage „Wie können Lernende sich substanzielles fachliches Wissen und handlungsrelevante Fähigkeiten aneignen, um damit komplexe Probleme kreativ zu lösen?“ 1. Es zielt damit auf die Ermöglichung authentischen Lernens und den Erwerb zukunftsrelevanter Kompetenzen ab.

Deeper Learning versteht sich als Transformationskonzept, das Schule den Anforderungen des 21. Jahrhunderts anpasst und Schüler:innen auf eine selbstbestimmte Lebensführung in zunehmend komplexen, mehrdeutigen, unsicheren und digitalisierten Lebens- und Arbeitswelten vorbereiten soll 1.

Von: Anne Sliwka und Lea Deinhardt


Deeper Learning als tragfähiges Lernsetting der Zukunft

Es geht beim Deeper Learning nicht um lineare Wissensvermittlung, sondern vielmehr darum, einen gestalterischen Umgang mit dem Rohstoff Wissen zu erlernen. Neben tiefgreifendem Fachwissen werden überfachliche Kompetenzen, die sogenannten 21st Century Skills wie Kommunikation, Kooperation, kritisches Denken und Kreativität, gefördert. Deeper Learning schafft also Lernsettings, in denen Schüler:innen Wissen und Handlungskompetenz simultan erwerben. Außerdem verbindet es „die in der Vergangenheit oft als gegensätzlich verstandenen pädagogischen Prinzipien der Transmission und der Ko-Konstruktion von Wissen zu einer produktiven Synthese“ 2. Dabei macht es sich die Möglichkeiten der Digitalisierung zu Nutze und schafft hybride Lernumgebungen, die außerschulische und digitale Lernwelten stärker mit der schulischen Lernwelt verbinden. Deeper Learning öffnet somit die Tür für komplexe und interdisziplinäre Frage- und Problemstellungen.

Entwicklung von Persönlichkeit und Agency durch Deeper Learning

Das Ziel von Deeper Learning ist, die vielfältige Persönlichkeitsentwicklung von Individuen zu ermöglichen und ihr Selbstwirksamkeitserleben bzw. ihre Agency zu stärken. Agency bedeutet, sich selbst als handlungswirksam zu erleben sowie selbstbestimmt und selbstbewusst in Interaktion mit seiner Umgebung zu treten, um eigene Ziele zu verfolgen. Agency bildet damit den Gegenpol zu Ohnmachtserleben und dem Gefühl, externen Zuständen hilflos ausgeliefert zu sein 3. Persönlichkeit und Agency entwickeln sich im Überschneidungsbereich von tiefgreifendem Fachwissen, Identität und Kreativität 4.

Deeper Learning ermöglicht Lernenden die Entwicklung in allen drei Bereichen: Durch die Vermittlung fachlicher Schlüsselkonzepte können sich die Lernenden zunächst tiefgreifend Wissen aneignen und dieses dann gestaltend anwenden. Die Möglichkeit zum interessegeleiteten Arbeiten und dem Einbringen eigener Ideen und Talente unterstützt ihre Identitätsentwicklung. Die ko-konstruktive Zusammenarbeit an authentischen Leistungen fördert ihre Kreativität 5.

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Deeper Learning aus der Perspektive der Begabungsförderung

Wirksame Begabungs- und Begabtenförderung bezieht sich nicht ausschließlich auf die Förderung intellektueller Fähigkeiten, sondern schließt immer auch die Förderung umfassender Fertigkeiten, darunter Selbst- und Sozialkompetenzen wie Lernstrategien, Selbstorganisation, Motivation und Selbstvertrauen mit ein 6. Begabungsförderung steht im Zeichen einer stärken- und ressourcenorientierten Persönlichkeitsentwicklung. Damit teilen Begabungsförderung und Deeper Learning den pädagogischen Grundsatz, Lernen als ganzheitlichen Prozess zu betrachten, der Schüler:innen zur Entfaltung all ihrer Potenziale verhelfen soll. Deeper Learning bedeutet immer auch interessengeleitetes und kooperatives Lernen, welches personalisierte Lernpfade und authentische Leistungen ermöglicht. Deeper Learning ist adaptiv: Der Prozess schafft Raum, die Interessen und Bedürfnisse der Lernenden anzuerkennen und zu würdigen, ihre Autonomie und Selbstbestimmung zuzulassen und zu fördern. Deeper Learning schafft damit einen fachlich-inhaltlichen Rahmen und ein pädagogisches Setting, von dem begabte Lernende besonders stark profitieren: Es ermöglicht ihnen, in ihrem eigenen Lerntempo mit eigenen Lösungswegen zu lernen, ohne von den anderen Lernenden isoliert zu werden.

Studienlage zum Deeper Learning

Deeper Learning ist begabungsförderlich, da es adaptiv allen Lernenden für sie persönlich angemessene Lernherausforderungen sowie Raum zur Erkundung ihrer eigenen Interessen und Stärken eröffnet und sie in der Entfaltung ihrer Persönlichkeit und Potenziale unterstützt 6. Erste empirische Studien (478) zeigen positive Effekte von Deeper Learning im Bereich der kognitiven Kompetenzen (z. B. Beherrschung akademischen Wissens, komplexe Problemlösestrategien), der interpersonellen Kompetenzen (z. B. Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit) und der intrapersonellen Kompetenzen (z. B. akademisches Selbstkonzept, Lernmotivation, Durchhaltevermögen). Die Studien zeigen außerdem, dass die positiven Effekte von Deeper Learning bei leistungsstarken Lernenden ausgeprägter sind als bei leistungsschwächeren Lernenden. Begabte Schüler:innen, die ein höheres Leistungsvermögen und lernförderliche Eigenschaften wie eine stärkere Wissbegierde oder ein schnelleres Lerntempo aufweisen, können besonders stark von Deeper Learning mit seinen Personalisierungsmöglichkeiten profitieren. Damit ist Deeper Learning auch eine Form der Begabtenförderung, genauer gesagt ein inklusives Fördermodell durch Enrichment, in dem alle Schüler:innen in einem gemeinsamen Rahmen differenziert in ihrer Zone der nächsten Entwicklung lernen, ohne separiert oder etikettiert zu werden.

Das Phasenmodell des Deeper Learning

Deeper Learning-Einheiten gliedern sich in mehrere Phasen, die jeweils eine eigene Funktion und Logik im gesamten Lernprozess haben: Die vorgeschaltete (Co-)Designphase, sowie drei Hauptphasen, die von den Schüler:innen durchlaufen werden, nämlich die Phase der Instruktion und Aneignung, die Phase der Ko-Konstruktion und Ko-Kreation, und die Phase der authentischen Leistung. Die einzelnen Phasen werden im nachfolgenden im Detail dargestellt.

Zunächst ein Beispiel, wie eine Deeper Learning-Einheit konkret aussehen kann: Eine Geschichts- und eine Englischlehrkraft tun sich zusammen, um in der Jahrgangsstufe 11 gemeinsam eine Einheit zum Thema Kolonialismus zu entwerfen (= Co-Designphase). Beide bringen dabei ihre Expertisen in den Designprozess ein und legen das Wissensfundament für die Einheit fest (z. B. welches historische Fachwissen und welches englischsprachige Vokabular benötigt werden). Anschließend bereiten sie Impulse, Inputs und differenzierende Materialien vor, anhand derer sich die Schüler:innen das Wissensfundament aneignen können (= Phase 1).

Aufbauend auf das Wissensfundament wählen die Schüler:innen eigene vertiefende Forschungsfragen, die sie in kleinen Teams bearbeiten (= Phase II). Je nach Interessenlage könnten die Schüler:innen sich hier beispielsweise intensiver mit der Entstehung des Kolonialismus, mit konkreten historischen Ereignissen, mit Folgen in der heutigen Welt oder mit der Darstellung von Kolonialismus in Literatur und Kunst beschäftigen. Die Lehrkräfte begleiten diesen Prozess und stellen individualisierte Hilfestellungen bereit.

Die Arbeit der Schüler:innen mündet schließlich in ein authentisches Leistungsprodukt (= Phase III). In der Designphase haben die Lehrkräfte entschieden, dass ein gemeinsamen Magazin namens „Colonialism Revisited“ entstehen soll. Die Schüler:innen erstellen in ihren Forschungsteams dementsprechend Beiträge für das Magazin. Bereits zu Beginn der Deeper Learning-Einheit werden die Kriterien für gute Magazinbeiträge transparent kommuniziert. Das fertige Magazin wird in digitaler und gedruckter Version in der Schule ausgelegt.

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(Co)-Designphase

Am Anfang einer Deeper Learning-Einheit steht die vorgelagerte (Co-)Designphase, die von Lehrkräften im Team gestaltet wird.

Design first

Die Co-Designphase ist bewusst als Design- und nicht als Planungsphase konzeptualisiert: Lehrkräfte entwickeln sich beim Deeper Learning weg von der Routine-Expertise hin zur adaptiven Expertise, d. h. sie gehen die Gestaltung der Unterrichtssequenzen mit mehr Offenheit und Kreativität an und versuchen, traditionelle Muster von Unterricht und (vermeintliche) Limitationen mit innovativen Designideen zu durchbrechen. Erst nach einem ausführlichen gemeinsamen Brainstorming, bei dem die Teammitglieder alle Ideen ohne Bewertung notieren, legen die Lehrkräfte die Grobstruktur der Deeper Learning-Einheit fest und verständigen sich auf das von allen Lernenden zu erwerbende Wissensfundament. Im Anschluss planen die Lehrkräfte die einzelnen Phasen genauer, wählen differenzierte Materialien und Aufgabenstellungen aus, stufen diese nach Schwierigkeitsgrad und bereiten mit diesen Materialien die hybride Lernumgebung vor. „Wichtig ist, dass fachlich anspruchsvolle Inhalte sich verbinden mit Aufgabenstellungen, die allen Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit bieten, eigene Schwerpunkte zu setzen und herausfordernde Lernprozesse zu erleben“ 9. Es gilt das gemäß der Lernvoraussetzungen passende Maß zwischen Struktur und Freiheit zu finden, sodass die Schüler:innen für sie individuell geeignete, herausfordernde Lernpfade beschreiten können.

Design im Team

Das Design anspruchsvoller Deeper Learning-Einheiten lässt sich am besten bewältigen, wenn Lehrkräfte im Team arbeiten. Bewährt haben sich Teams, in denen sich die Persönlichkeiten und Expertisen der Lehrkräfte synergetisch ergänzen. Ist das Design abgeschlossen, beginnt die dreiphasige Durchführung der Deeper Learning-Einheit. Das Design und die Durchführung in heterogenen Lehrkräfteteams übt eine Signalwirkung auf die Schüler:innen aus: Sie erleben, dass unterschiedliche Herangehensweisen, Stärken und Schwächen vollkommen legitim und normal sind. Gleichzeitig stärkt die Teamarbeit der Lehrkräfte die Personalisierung: Schüler:innen können sich aussuchen, welche Lehrkraft sie mit welchen Anliegen aufsuchen. Unterschiedliche Bedürfnisse und Präferenzen der Lernenden können so besser aufgefangen werden.

Abbildung 1: Phasenmodell des Deeper Learning 10

Phase I: Instruktion und Aneignung

Die Phase I des Deeper Learning-Modells befasst sich mit der Instruktion und Aneignung. Sie hat zum Ziel, dass die Schüler:innen fachliche Schlüsselkonzepte und relevantes Vorwissen kennenlernen und verstehen. Diese Phase ist von grundlegender Bedeutung, denn ein solides Wissensfundament ist kognitionspsychologisch die Voraussetzung für kreatives und problemlösendes Arbeiten, wie es im weiteren Verlauf der Deeper Learning-Einheit erfolgen soll 11. Zur Vermittlung des relevanten Vorwissens stehen in Phase I diverse Kanäle der Instruktion und Aneignung zur Verfügung, die sich ergänzen: „Direkte Instruktion“, also zum Beispiel ein sokratisches Unterrichtsgespräch geführt durch Lehrkräfte, kann kombiniert werden mit einem Vortrag einer externen Expertin. Zusätzlich können die Lernenden sich das Grundlagenwissen digital gestützt aneignen, indem sie auf einer Lernplattform bereitgestellte Materialien und Arbeitsaufträge bearbeiten. Hier bieten sich gerade im Kontext der Begabungsförderung Differenzierungsmöglichkeiten an: Von Beginn an können die Lehrkräfte den Lernenden auf der digitalen Plattform beispielsweise schwierigkeitsvariierende Materialen von einfachen Erklärvideos auf Deutsch bis hin zu wissenschaftlichen Vortragsvideos in Fremdsprachen, von Zusammenfassungen in einfacher Sprache bis hin zu wissenschaftlichen Originaltexten bereitstellen. Begabte Schüler:innen wählen oft automatisch anspruchsvollere Lernmaterialien, die ihr Interesse wecken. Außerdem können Lehrkräfte alle Schüler:innen ermutigen, diejenigen Lernmaterialien zu wählen, die sie herausfordern ohne sie zu überfordern. So lässt sich in Phase I sicherstellen, dass alle Schüler:innen in ihrer „Zone der nächsten Entwicklung“ 12 lernen, fachliche Schlüsselkonzepte und fundamentale Wissensgrundlagen erwerben und sich besonders begabte Schüler:innen zugleich nicht langweilen oder chronisch unterfordert fühlen.

Erwerb des Wissensfundaments formativ überprüfen

Vor dem Übergang in die zweite Phase der Ko-Konstruktion und Ko-Kreation, in der die Schüler:innen kreativ mit dem erworbenen Wissen weiterarbeiten, sollte in einem formativen Prozess überprüft werden, ob alle Lernenden das Wissensfundament erworben haben. Dies kann beispielsweise gestalterisch durch das Erstellen von Concept Maps geschehen, in denen die Lernenden ihr erworbenes Wissen systematisch visuell in Bezug zueinander setzen, oder spielerisch stattfinden, etwa durch ein „Tabu“-Spiel, bei dem die Lernenden Schlüsselbegriffe erläutern und erraten müssen. Werden hierbei kollektive oder individuelle Wissenslücken festgestellt, können die Lehrkräfte passgenau nachjustieren.

Phase II: Ko-Konstruktion und Ko-Kreation

Die Phase II des Deeper Learning-Modells fokussiert auf die ko-konstruktive und ko-kreative Arbeit mit Wissen und bietet vielfältige Möglichkeiten zur Personalisierung von Lernprozessen. Die Lernenden sind aufgefordert, mit dem in der vorangegangenen Phase I erworbenen Wissen analytisch, problemlösend und kreativ weiterzuarbeiten, indem sie eigenen Forschungsfragen zu spezifischen Teilaspekten des gemeinsamen Rahmenthemas nachgehen. Im Vergleich zu Phase I arbeiten die Lernenden in Phase II stärker selbstreguliert und meistens in kleinen Teams. Das Fachwissen kommt jetzt zur Vertiefung, wenn die Lernenden es unter Nutzung der sogenannten 21st Century Skills (also Kommunikation, Kollaboration, kritisches Denken und Kreativität) anwenden. Besonders wichtig ist in dieser Phase II das „Voice & Choice“-Prinzip: Der Lernprozess ist nicht engmaschig durch die Lehrpersonen vorgegeben, sondern die Schüler:innen erhalten Wahl-, Entscheidungs- und Handlungsfreiräume zur aktiven Mitgestaltung 13. Die Lernenden können interessengeleitet eigene vertiefende Schwerpunkte setzen. Auch in Bezug auf die Arbeitsweise, Arbeitsorte, Lernziele und die zu entwickelnde authentische Lernleistung können Schüler:innen eigene Vorstellungen einbringen und den Prozess mitgestalten. Voice & Choice bedeutet nicht, die Lernenden willkürlich sich selbst zu überlassen, sondern ihnen zielgerichtet innerhalb eines vorgegebenen Rahmens Mitbestimmungsmöglichkeiten und Handlungsfreiräume zu eröffnen, die an ihr Alter, ihr Vorwissen und ihre Selbstregulationsfähigkeit angepasst sind (1415). Es zeigt sich, dass solche Freiräume von begabten Schüler:innen besonders aktiv und umfassend genutzt werden, während weniger leistungsstarke Schüler:innen von stärker durch die Lehrkräfte vorbestimmten Lernpfaden beim Deeper Learning profitieren. Im Sinne eines kontraktualistischen Lernverständnisses (engl.: negotiated learning) ist es möglich, Vorgaben für die ganze Klasse bzw. Lerngruppe zu machen, diese jedoch bei nachvollziehbaren Begründungen seitens einzelner Schüler:innen adaptiv anzupassen. Wie gelernt und was am Ende geleistet werden soll, ist Aushandlungssache. Besonders begabte und engagierte Schüler:innen können so beispielsweise die Möglichkeit erhalten, auch einmal alleine zu arbeiten, leistungshomogenere Gruppen zu bilden oder die Schule im Rahmen ihrer Recherchen zu verlassen, um außerschulische Lernorte aufzusuchen. Durch Voice & Choice erleben die Lernenden sich selbst als aktiv handelnde Personen. Sie entwickeln Agency und Co-Agency mit anderen und lernen so auch, dass sich komplexe Probleme am besten lösen lassen, wenn Menschen ihre Expertisen und Kompetenzen zusammenbringen.

Raum für außergewöhnliche Lernwege und dynamische Lernprozesse

Deeper Learning stärkt die Persönlichkeitsentwicklung und ermöglicht authentisches Lernen. All dies übt einen positiven Einfluss auf die Lernmotivation, das Lernengagement und den Lernerfolg der Lernenden aus 13.

Dies gilt in besonderem Maße für begabte Schüler:innen, deren oft außergewöhnliche Lernwege und Denkmuster im Format des Deeper Learning mehr Raum erhalten als im traditionellen Unterricht: Die Schüler:innen arbeiten nicht darauf hin, vorgegebene Ziele zu erreichen, um eine bestimmte Note zu erzielen, sondern arbeiten an selbst gesetzten Zielen, um die im Rahmen ihrer Möglichkeiten größtmögliche Arbeitsqualität zu erlangen. Sie erhalten durch Deeper Learning einen Rahmen, in dem sie herausfordernde Lernwege wählen, ihre Komfortzone verlassen, Risiken eingehen, aus Fehlern lernen und über sich selbst hinauszuwachsen können. Begabte Schüler:innen können so komplexe Lösungen entwickeln, die weit über die Mindest- und Regelstandards hinausreichen. Personalisierte Lernherausforderungen stärken dabei ihr dynamisches Selbstkonzept (engl.: growth mindset) 16, d. h. die Lernenden sehen ihre Fähigkeiten und Talente nicht als statisch, sondern als durch Anstrengungen veränderbar. Lernende mit einem dynamischen Selbstkonzept gehen davon aus, dass sie lernfähig sind und sich selbst – auch unabhängig des schulischen Angebots – weiterentwickeln können, was eine stark lernförderliche Wirkung entfaltet.

Rolle der Lehrkräfte beim Deeper Learning

Lehrkräfte spielen eine wichtige Rolle in der Unterstützung eines solchen Mindsets: Sie können Schüler:innen bewusst machen, welche Entwicklungen sie durch Anstrengung erreichen können und sie ermutigen herausfordernde Lernwege zu wählen, die im Sinne Vygotskys 12 in ihrer „Zone der nächsten Entwicklung liegen“. Hierzu können sie beispielsweise Anerkennung und Lob für echte Anstrengungsbereitschaft, zielorientierte Arbeit und Frustrationstoleranz aussprechen. Insgesamt fungieren Lehrkräfte in Phase II des Deeper Learning-Modells primär als Coaches. Sie unterstützen die Teams und einzelne Lernende in ihrem Lernprozess, indem sie Nachfragen stellen, zur Reflexion anregen, Impulse setzen, formatives Feedback geben und individuell passende Lerngerüste bauen (engl.: Scaffolding), die die Lernenden auf dem Weg hin zu ihrem Lernziel unterstützen. Von einem solchen adaptiven Handeln profitieren schwächere Schüler:innen, die individuell passgenaue Hilfen erhalten, genauso wie besonders begabte Schüler:innen, die in ihrer überdurchschnittlichen Lern- und Leistungsentwicklung wahrgenommen, gefördert und ermutigt werden.

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Phase III: Authentische Leistung

Eine Deeper Learning-Einheit mündet in Phase III in eine authentische Leistung, die die Lernenden meistens in kleinen Teams zusammen erarbeiten. Nach Absprache mit den Lehrkräften sind aber auch Einzelleistungen möglich. Authentische Leistungen sind Produkte oder Performanzen, die in der Lebenswelt für andere Menschen sichtbar und wirksam werden. Deeper Learning nimmt damit Abstand von der traditionellen Leistungsmessung in schriftlichen Klassenarbeiten und versucht Leistungserbringung in einer Schule der Vielfalt dem anzunähern, was in der Welt jenseits der Schule als Leistung gilt: Dinge, die anderen Menschen dienen oder Freude bereiten. Für begabte Schüler:innen eröffnet das vielfältige neue Möglichkeiten: Ihre Leistungsentwicklung wird nicht mehr durch einen eng vorgegebenen Erwartungshorizont und erwartete Antworten gedeckelt, sondern öffnet sich für kreative, auch unkonventionelle Ideen und Lösungen. Dabei gibt es wenig Grenzen: Eine authentische Leistung kann beispielsweise eine Erfindung, eine Aufführung, eine Podiumsdiskussion, ein Podcast, ein Blogbeitrag, ein Dokumentarfilm, eine Ausstellung, ein Festmahl, ein gemeinnütziges Projekt, ein Comic, ein Social Media Beitrag, ein Hörspiel, eine App, ein Zeitungartikel, ein Moodboard, ein Experiment, ein Tanz oder eine Kampagne sein. Auch im medienpädagogischen Sinne ist die Arbeit an authentischen Leistungsprodukten als Vorbereitung auf die medial geprägte außerschulische Lebens- und Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts als gewinnbringend zu betrachten.

Inwiefern die Form der authentischen Leistung von den Lehrkräften vorgegeben wird bzw. wie viel Wahlfreiheit die Schüler:innen erhalten, ist sowohl vom Thema als auch von den Lernenden abhängig. Bestimmte Themen legen bestimmte Lernprodukte nahe und bestimmte Lernende brauchen mehr Anleitung als andere. Als Faustregel gilt: Je fortgeschrittener die Lernenden im Deeper Learning und je begabter und motivierter Schüler:innen sind, desto mehr Freiräume können sie produktiv nutzen. Auch hier greift ein kontraktualistisches Lernverständnis: Wenn Schüler:innen begründen können, warum sie einen Lernpfad zugunsten eigener Ideen verlassen wollen, können sich Lehrkräfte darauf einlassen und ihnen individuelle Lern- und Leistungswege zugestehen.

Dialogische Leistungsentwicklung basierend auf kriterialer und individueller Bezugsnorm

Leistung entwickelt sich beim Deeper Learning dialogisch, d. h. Schüler:innen erhalten prozessbegleitend formatives Feedback und adaptive Hilfestellungen zu ihrer fachlichen sowie überfachlichen Kompetenzentwicklung. Die Rückmeldung orientiert sich sowohl an zuvor transparent festgelegten Kriterien als auch an individuellen Lernfortschritten. Die soziale Bezugsnorm (also der Vergleich der Lernenden untereinander) rückt beim Deeper Learning in den Hintergrund, während die kriteriale und die individuelle Bezugsnorm gestärkt werden. Personalisierte Rückmeldungen, die sich sowohl auf das Lernprodukt als auch den Lernprozess beziehen, können Lernenden helfen ihre Begabungen zu erkennen, zu entwickeln und gezielt einzusetzen. Sie spielen eine wichtige Rolle in der Begabungs- und Begabtenförderung, da sich Schüler:innen ihrer Begabungen und Talente häufig gar nicht bewusst sind 17. Wenn Schüler:innen eine authentische Leistung im Dialog mit ihren Lehrkräften und Mitschüler:innen entwickeln, lernen sie dabei nicht nur ihr Fachwissen anzuwenden, sondern auch sich selbst, ihr Leistungspotenzial und ihre erbrachte Leistung besser einzuschätzen und sich nächste Ziele zu setzen. Dass die authentischen Leistungen in der realen Lebenswelt der Schüler:innen, also der Schulöffentlichkeit oder der Gemeinde, sichtbar und wirksam werden, trägt zur Wertschätzung der Anstrengung und Leistung sowie zum Selbstwirksamkeitsempfinden der Lernenden bei: Es motiviert sie, ihre bestmögliche Leistung zu zeigen.

Fazit

Deeper Learning ist ein zukunftsgewandtes Strukturmodell für Unterricht, das zahlreiche Aspekte der Begabungs- und Begabtenförderung in einem inklusiven Setting zusammenführt. Es wird der Vielfalt in den Lernvoraussetzungen der Schüler:innen gerecht, ohne Isolationserfahrungen hervorzurufen. Deeper Learning und Begabungs- und Begabtenförderung teilen die pädagogische Grundhaltung eines stärken- und ressourcenorientierten Blicks auf Lernen mit dem Ziel der ganzheitlichen Entfaltung individueller Potenziale und Persönlichkeiten 6. Deeper Learning schafft einen Rahmen, in dem unterschiedliche Bedürfnisse, Interessen und Talente respektiert, anerkannt und gewürdigt werden. Die dem Deeper Learning inhärente Kombination aus einer soliden fachlichen Wissensbasis, interessengeleitetem Arbeiten, Handlungsfreiräumen, Wertschätzung und individueller Förderung wohnt ein hohes Motivationspotenzial inne, welches Schüler:innen zu persönlichen Bestleistungen antreibt und ihr Selbstwirksamkeitsempfinden stärkt 17. Bereits in Phase I des Deeper Learnings wird durch differenzierte Wissenszugänge sichergestellt, dass alle Lernenden das notwendige Wissensfundament erwerben und dabei auch besonders begabte Schüler:innen angemessen herausgefordert werden. Lernmotivation und Engagementbereitschaft werden in Phase II und III des Deeper Learning-Modells durch die ko-konstruktive Zusammenarbeit und den Fokus auf authentische Leistungen weiter gestärkt, in deren Rahmen Schüler:innen Handlungs- und Gestaltungsfreiräume kreativ nutzen können. Durch die prozessbegleitend stattfindenden Rückmeldungen zur individuellen Leistungsentwicklung, aus denen adaptive Hilfestellungen für den weiteren Lernprozess abgeleitet werden, lernen Schüler:innen ihre Begabungen zu erkennen sowie diese bewusst weiterzuentwickeln und gezielt einzusetzen 18.